Giuliani pop

Joaquín Turina, Obras para Guitarra/Guitar Works, Editado por Marián Álvarez Benito, Madrid u.a. 2009, Schott ED 9540, € 17,95

Fünf Werke hat der spanische Komponist Joaquín Turina (1882—1949) für Gitarre geschrieben. Sevillana op. 29 ist 1923 entstanden und zwar aufgrund einer Anfrage von Andrés Segovia, der das Stück dann am 17. Dezember 1923 in Madrid uraufgeführt hat. Fandanguillo op. 36 ist 1925 entstanden. Andrés Segovia soll dieses Stück im Februar 1932 uraufgeführt haben, neue Forschungen haben aber ergeben, dass Regino Sainz de la Maza es schon vier Jahre vorher in einem Konzert in Madrid gespielt hatte. Die Niederschrift von Ráfaga op. 53 hat Turina am 17. August 1929 begonnen. Wann das Stück vollendet worden ist und wer es wann uraufgeführt hat, ist bisher nicht bekannt. Es ist nicht Andrés Segovia gewidmet.

Die Sonata para Guitarra op. 61 ist Turinas substanziellstes Gitarrenwerk. Geschrieben ist es 1930, Segovia hat es im Januar 1932 in Rom uraufgeführt. Homenaje a Tárrega op. 69 ist das letzte der Gitarrenwerke von Turina. Geschrieben wurde es 1932. Wer es wann uraufgeführt hat, wissen wir nicht. Bis auf Sevillana sind alle Stücke zwischen 1926 und 1935 bei Schott erschienen. Die Erstausgabe von Sevillana erschien 1927 bei der Sociedad Musical Daniel in Madrid, später dann bei Columbia Music. Damit ist der Werkbestand beschrieben.

Warum erscheint jetzt, fast achtzig Jahre nach den einzelnen Erstausgaben, eine kritische Edition dieser immer noch bedeutenden Repertoire-Stücke? Diese Frage ist relativ einfach zu beantworten, denn alle Erstausgaben der Werke von Turina sind von Andrés Segovia für die Veröffentlichung vorbereitet worden. Andrés Segovia, hat immer wieder eigenmächtig und ohne aus Gründen der Spieltechnik dazu gezwungen zu sein, Veränderungen an Kompositionen vorgenommen. Vor ein paar Jahren erschien bei Schott eine Neuausgabe einiger der großen Werke für Gitarre von Manuel Ponce

  • Manuel Ponce, Guitar Works, Urtext, Edited from the Sources by Tilman Hoppstock, Mainz u.a. 2006, Schott GA 544, € 14,95

und hier bemerkt der Herausgeber Tilman Hoppstock: “Fast alle Werke […] wurden unmittelbar nach der Erstaufführung im Schott-Verlag veröffentlicht und waren das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit des Komponisten mit Andrés Segovia, dessen Einfluss auf viele Stücke wohl beträchtlich gewesen sein dürfte. Wie wir heute feststellen können, gibt es z. T. erhebliche Abweichungen der späteren Druckausgaben vom Autograph eines jeden Stücks.“ (S. 5) Der Herausgeber der neuen Turina-Ausgabe bestätigt: „Joaquín Turina’s guitar output is closely associated with the figure of Andrés Segovia […] He commissioned and premiered some of them, and they were published under his supervision. Up to this point, there would be nothing wrong at all, if it were not for the large number of modifications the guitarist made to the composer’s scores.Die Quellenlage bei Turina war dabei weniger übersichtlich, als bei Ponce, wo die meisten Autographen bekannt sind und konsultiert werden konnten. Marián Álvarez Benito war in zwei Fällen auf Abschriften angewiesen, die von einem Kopisten im Auftrag der „Sociedad General de Autores Españolas“ angefertigt worden waren. Sie enthalten Korrekturen von der Hand des Komponisten.

Zahlreiche Abweichungen wurden im Vergleich der Druckversionen und der handschriftlichen Quellen offenkundig. In der Sonata waren es 258, in Sevillana 251, wobei kleinere Schreib- oder Stichfehler wie zum Beispiel fehlende Bindebögen nicht gezählt wurden. In fast jedem Stück war mehr als eine Abweichung pro Takt zu verzeichnen.

Einige Differenzen beziehen sich darauf, dass Segovia als Gitarrist anders notierte, als Turina, dem das Instrument eigentlich fremd war. Gemeint sind in diesem Zusammenhang zweigeteilte Notenhälse, um Stimmführungen deutlich zu machen oder das Setzen zusätzlicher Pausen. Aber es gibt auch zahlreiche Abweichungen, was Noten und Vorzeichen angeht oder rhythmische Modifikationen.

Abweichungen sind in der neuen Turina-Ausgabe in einem kritischen Bericht [=KB] dokumentiert, die umfangreichen und sehr informativen Vorworte sind in Spanisch und Englisch abgedruckt. Von den insgesamt 64 Seiten der Ausgabe sind 28 Seiten reiner Notentext.

 Turina 2009 1023x357

Wenn ich die ersten vier Takte von „Homenaje a Tarrega“ [=HT] in den beiden vorliegenden Ausgaben miteinander vergleiche, fallen mir einige Dinge auf: Zum Beispiel heißt das Stück in der Ausgabe von 1935 (auf Französisch) „Hommage à Tarrega [sic]“ und 2009: (auf Spanisch) „Homenaje a Tárrega“ und dann im Untertitel (auf Französisch) „Deux Piéces [sic] pour guitare“. Alle Fingersätze sind (ohne das im KB zu erwähnen) entfernt worden, ebenso Anschlagsanweisungen wie Rasgueado. Sehr wohl wird im KB erwähnt, dass die Anweisungen „sul ponticello“ in Takt 3 und „sonorité voilée sans pizzicato“ in den Takten 4-5 von Segovia ergänzt worden und daher in der Kritischen Ausgabe [=KA] nicht vorhanden sind. Dort fehlen außer den Fingersätzen die Lagen- und Barréangaben und auch, in Takt 3, ein paar Vorzeichen, die das Computer-Notensatzprogramm verschluckt (genau genommen mit Notenköpfen überdruckt) hat. Ein anderes (Auflösezeichen in T3) hat das Programm so verschoben, dass es keinen Sinn mehr macht. Alle Bindebögen (ich rede immer noch von den Takten 1-4 von HT) sind sinngemäß verändert oder weggelassen worden. Mehrklänge sind einheitlich kaudiert, das heißt, ihre Notation entspricht, was diesen Aspekt angeht, der der Lautentabulaturen. Auch da konnten keine unterschiedlichen metrischen Werte „untereinander“ dargestellt werden. Joaquín Turina mag das tatsächlich so notiert haben, aber nur aus Unkenntnis der Spezifika der Gitarrennotation.

Die neue Turina-Ausgabe bei Schott ist nicht als Urtext-Ausgabe für ausschließlich wissenschaftliche Zwecke konzipiert. Sie ist eine praktische Ausgabe, ist m.E. dafür aber zu reduziert. Die Segovia-Ausgaben waren Abbilder seiner persönlichen Interpretationen und sind als solche heute nicht mehr zu benutzen, weil niemand mehr wie Segovia spielt oder spielen möchte. Außerdem möchte ein Benutzer natürlich wissen, was der Komponist aufgeschrieben und was Maestro Segovia eigenmächtig dazugetan hat.

Leider hat der Komponist seine Gitarrenmusik ziemlich unbeholfen notiert. Álvarez bemerkt dazu, Turina habe "a una sola voz" (s. S. 51) aufgeschrieben, also das gesamte musikalische Gefüge auf eine Stimme reduziert (gemeint ist die eben beschriebene Lautentabulatur-Charakteristik). Dass Álvarez diese Schreibweise beibehält, macht eine praktische Verwendung seiner Ausgabe mindestens problematisch. Hier hätten Ergänzungen vorgenommen werden müssen.

An dieser Musik kommt kein anspruchsvoller Gitarrist vorbei – also auch nicht an dieser neuen Ausgabe. Auch keiner, der die alten Editionen bereits besitzt! Diese sind bei Schott übrigens noch im Katalog: GA 101 (Fandanguillo), GA 128 (Ráfaga), GA 132 (Sonata) und GA 136 (Homenaje a Tárrega), auch die Sammelausgabe Andrés Segovia: Die schönsten Stücke aus seinem Repertoire (GA 520), in der Homenaje a Tárrega und Fandanguillo abgedruckt sind.