[Der folgende Beitrag ist in Gitarre & Laute ONLINE XXX/2008/Nº 2, S. 4-6 zu finden. Die dort veröffentlichte Version des Textes ist die verbindliche und zitierbare und unterscheidet sich unter Umständen in Details von dieser Version.]
Schade, dass Beethoven oder Mozart nicht für Gitarre komponiert haben, hört man immer wieder, dann wäre das Instrument heute überall anerkannt. Danach werden dann die großen Komponisten aufgezählt und zitiert, die für Gitarre geschrieben oder sich mindestens löblich über das Instrument ausgelassen haben. Legenden werden aufgezählt, die von Gitarrenliebhabern in die Welt gesetzt worden sind und seitdem unausrottbar durch die Literatur geistern, etliche davon sind von Andrés Segovia und stehen in allen Büchern vom Maestro und über ihn. Aber zum Glück gibt es ja „Gitarren-Publizisten" und „Gitarrologen", die mit den Halbwahrheiten aufräumen. „Gitarrologen"? Termini wie dieser sind immer gern von denen in die Welt gesetzt worden, die sich „ernsthaft" und „wissenschaftlich" mit der Gitarre und ihrer Musik befasst haben. Das Fach hieß dann „Gitarristik" und man verbrämte Halbwissen mit wissenschaftlichem Gehabe und aufgesetzter Diktion. Oder man setzte wüste Andeutungen in die Welt, spielte die Rolle des allwissenden Weltverbesserers ... ohne Argumente aber mit viel ausladender Geste. Kurz: Die Gitarre wird von der etablierten Musikwissenschaft (immer schon) stiefmütterlich behandelt ... mit dem Erfolg, dass sich Dilettanten (von lat. delectare: erfreuen, ergötzen) zu Fachleuten erklären und ungestraft Dinge behaupten oder in Frage stellen.
Worum es geht? Diejenigen unter ihnen, die schon länger die damals noch gedruckte Zeitschrift Gitarre & Laute kennen und gelesen haben, werden sich erinnern, dass 1991 die Handschrift einer „Fantaisie pour Guitare Seule Composée et dédiée à Son Elève Mademoiselle Houzé par Ferdinand Sor" bei einem Bostoner Antiquar zum Verkauf stand, ein bis damals unbekanntes Werk des Komponisten, und dass damals die Frage nach der Echtheit dieser Handschrift diskutiert wurde. Selbstverständlich ist diese Diskussion nach der Veröffentlichung in Gitarre & Laute weitergeführt worden, hier und anderswo. Und man hatte keine Zweifel daran, dass die Handschrift, die da entdeckt worden war, tatsächlich von der Hand Fernando Sors stammt. Die Handschrift ist übrigens damals für US-$ 15.000 im Angebot gewesen und an Pepe Romero verkauft worden, der das enthaltene Werk dann im Verlag Tuscany Publications unter 494-01970 herausgegeben hat. Pepe Romero war natürlich der Erste, der die Fantaisie eingespielt hat, nach ihm kamen aber auch sein Vater Celedonio, Adam Holtzman und Alexander Sergei Ramírez. Nun steht seit einiger Zeit ein Artikel von Wolf[gang] Moser im Internet (früher www.wolfmoser.net, jetzt auch www.wolfmoser.de), in dem die Urheberschaft nicht nur bezweifelt, sondern kategorisch bestritten wird. Das Manuskript bezeichnet Moser als „bewußte Fälschung" und seine Argumente sind ... na ja, da wird es schwierig.Zunächst beschreibt der Autor aber seine eigene Kompetenz zum Thema ... weniger die anderer Autoren wie zum Beispiel Brian Jeffery, dessen Buch über Sor (Fernando Sor: Composer and Guitarist, London 1977) immerhin bis zum Erscheinen des Moser im Jahr 1984 das Standardwerk zum Thema war und auch danach unangetastet blieb. Moser: „Der Fund [der neu entdeckten Komposition von Sor] war für mich eine Herausforderung wegen meiner anderthalb Jahrzehnte Beschäftigung mit dem Thema »Sor«: Sieben Jahre zuvor hatte ich über ihn eine Monographie veröffentlicht und 1989 - zum 150. Todestag des Spaniers - noch ein 80-seitiges Sonderheft als Herausgeber betreut, mit Aufsätzen zu Leben oder Werk, vermischt mit Berichten von jüngsten Veranstaltungen zu Sors Ehren". Warum war der Fund eine Herausforderung? Und warum ist Moser nicht freudig erregt auf die Besitzer der Handschrift zugegangen? Es müsste für ihn, als "ausgewiesenen Sor-Kenner", eine Freude gewesen sein, ein neues Werk des Komponisten in Augenschein nehmen zu können. Und warum haben die Besitzer der Handschrift nicht bei ihm, als "ausgewiesenem Sor-Kenner", ein Gutachten in Auftrag gegeben oder mindestes um eine Art Stellungnahme gebeten? War es vielleicht so, dass Mosers Publikationen ihn überhaupt nicht als Sor-Kenner ausgewiesen hatten?
Portrait von Mademoiselle Houzé. Peter Danner hat es als Titelbild in Ausgabe XIX/1992, Nº 3 der Zeitschrift Soudboard veröffentlicht (von dort stammt auch die Abbildung hier). Gefunden hat er es in Francesco Molinos „Grande Méthode" op. 46.
Hier Wolf Mosers Argumente gegen Sor als Komponisten der „neuen Fantaisie: 1. Sor hat Mademoiselle Nathalie Houzé neben der vorliegenden Fantaisie drei weitere Kompositionen gewidmet: opp. 39, 42, 54 b(is). „Schwer vorstellbar, denn in seinem Gitarrenschaffen hat Sor niemanden häufiger oder schmeichelhafter mit Widmungen bedacht." „Eine vierte [Widmung] in so kurzem Abstand hätte die junge Dame eigentlich bloßstellen müssen, unter den Zeitumständen." 2. Auf dem Titel des Manuskripts widmet Sor die Fantaisie so: „À Son Elève Mademoiselle Houzé", aus den drei anderen Werken geht nicht hervor, dass sie seine Schülerin gewesen ist. „Der Komponist hätte sich folglich erst, als er ihr das anspruchsvollste Werk schrieb, darauf besonnen, dass die junge Frau seine Elevin war." 3. „Und warum hätte der Autor, seit 1828 eigener Verleger seiner Werke, die Kompositionen nicht selber herausgebracht, und sei es als Opus 64 - es blieben ihm immer noch fünf oder sechs Jahre zu leben." 4. „Die Dreiteilung in der Schreibweise ist ein unübersehbarer Schönheitsfehler" ... geschrieben steht auf dem Titelblatt „Intro ... d ... uction." 5. Den Duktus der Notenschrift hat Moser untersucht und dann befunden, es seien zwar die Einzelnoten getroffen, „nicht aber die charakteristische Linienführung noch die Sor eigene Eleganz für Federstriche." 6. Das „F" vor Fantaisie ist dem „F" im Namen Fernando zu ähnlich, ähnlich wie das „S" in „Seule und das in „Sor". Letzteres, das Titelblatt der Fantaisie, aus dem sich die Beobachtungen zu „6." ergeben haben, hat Moser erst später eingesehen: „Bis diese Erweiterung [!] in einer Fotokopie [!] auf meinen Schreibtisch flatterte, vergingen wieder Jahre." Erweiterung? Moser hat ganz offenbar alle bisherigen Argumente gegen die Authentizität der Sor-Komposition ausschließlich aus dem verkleinerten Abdruck in Gitarre & Laute geschlossen und meinen eigenen Kommentaren dazu, die ich wiederum weitgehend dem Antiquariatskatalog von J. & J. Lubrano entnommen hatte (damals Boston, heute New York), den mir Matanya Ophee zugeschickt hatte. Das war's! Danach wartete der Sor-Forscher Moser Jahre auf einen Satz Fotokopien [!], um seine Beobachtungen weiterzuführen, die für ihn immerhin eine „Herausforderung" gewesen waren ... anstatt 15 $ zu investieren, um die Ausgabe käuflich zu erwerben und sofort in der Hand zu haben. Auf jeden Fall hielt Moser die Handschrift vor Einsicht der „Erweiterung" für eine „Nachahmung", danach für eine „bewusste Fälschung"! Bei allen nachvollziehbaren und auch nicht nachvollziehbaren Argumenten gegen das Sor-Manuskript: Keines der Moserschen Argumente schert sich um die Musik, die da notiert ist. Einmal heißt es, die Fantasie sei „das anspruchsvollste" der Werke, die Sor Mademoiselle Houzé gewidmet habe und ganz am Schluss schreibt Moser, dem Autor der Handschrift sei „überzeugend das »Pasticcio« einer Sor-Fantasie gelungen". Das Stück hat also eine gewisse Qualität und es klingt auch nach Sor, ist aber nicht von ihm!? Es wird nicht untersucht, ob es stilistisch von Sor stammen könnte, es wird nicht nach Parallelen in anderen Werken des Komponisten gesucht oder nach nicht zu erklärenden Gegensätzen. Um Musik scheint es bei Moser, dem "ausgewiesenen Sor-Kenner", nicht zu gehen! Die Neuauflage des Sor-Buches von Moser, zunächst 1984 bei Gitarre & Laute in Köln erschienen und jetzt in einer „erweiterten und völlig überarbeiteten Neuauflage" bei Moser selbst, listet die Fantasie als „zweifelhaft" auf, ebenso das Violinkonzert. An anderer Stelle heißt das Gitarrenstück einfach "falsche Fantasie". Argumentiert wird nur knapp - dafür apodiktisch: „Gegen die Echtheit spricht bereits, dass Nathalie Houzé hier das ‘vierte' Mal als Widmungsträgerin in Sors Schaffen erscheinen würde. Doch ist die Handschrift dieser Fantaisie in Text und Noten auch eine Nachahmung, wobei das Manuskript eines Sor-Balletts von 1824 in der Pariser Bibliothèque de l'Ópéra als Vorlage gedient hat." Dies alles sind zu vage Argumente, um sich so weit aus dem Fenster zu lehnen. Und andere ausgewiesene Sor-Kenner wie Robert Spencer, Brian Jeffery und alle anderen teilen auch Mosers Meinung keineswegs. Sie [Mosers Meinung] stützt sich schließlich auf nichts anderes, als auf, erstens, eine Vermutung bezüglich gesellschaftlicher Gepflogenheiten zu Sors Zeit und, zweitens, auf ein paar Beobachtungen typographischer Art.
Zu 1: Peter Danner hat jenes Fräulein Houzé ausfindig gemacht und ihr Portrait als Titelbild in Ausgabe XIX/1992, Nº 3 der Zeitschrift Soudboard veröffentlicht (von dort stammt auch die Abbildung hier). Er hat es gefunden in Francesco Molinos „Grande Méthode" op. op. 46 und zwar stand es dort als Demonstration für die richtige Spielhaltung, allerdings ohne zu vergessen, sie im Untertitel, zwar kryptisch aber immerhin doch, zu erwähnen: „Mad[elle.] N. H., Elève la plus forte de Mr. F. M." Danner hatte aus der Tatsache, dass derselbe Molino seine „Grande Sonate" op. 51 ein paar Jahre später einer Nathalie Houzé gewidmet hat, davon aus, dass es sich bei den beiden Widmungsträgerinnen mit gleichen Initialen um ein und dieselbe Dame gehandelt hat: um Nathalie Houzé, die auch Fernando so geschätzt hat ... denn schon bei Molino galt sie als „Elève la plus forte", als seine „Meisterschülerin". Wen wunderts also, wenn diese junge Frau so begabt und so fleißig war, dass beide Lehrer, Molino und Sor, sie in Publikationen gern als ihre jeweilige Schülerin ausgaben? Sie schmückten sich mit ihrem Namen, waren stolz darauf, sie unterrichtet zu haben oder zu unterrichten. Heute geschieht so etwas meist umgekehrt ... Musiker brüsten sich damit, Schüler von Segovia, Pujol oder anderen Großmeistern gewesen zu sein (meistens übrigens, wenn die Lehrmeister schon verstorben sind, sich also nicht mehr wehren können). Damals schmückte sich der Lehrer mit seinen Schülern, auch aus rein merkantilen Überlegungen übrigens. Und nun die Frage: Wie decouvrierend muss es für Mademoiselle Houzé erst gewesen sein, wenn gleich mehrere Künstler ihr Kompositionen widmeten? Natalie Houzé war offenbar eine überaus begbte Musikerin und vermutlich kam sie aus gutem Haus. Vielleicht war Papa Houzé dazu ein großzügiger Mäzen der Pariser Künstler und vielleicht zeigten sich Molino und später Sor dafür erkenntlich, indem sie dem Fräulein Tochter coram publico ihr Talent bescheinigten? Das Mosersche Argument ist mehr als blass! Es bleiben jene, die sich auf die Paläographie, Graphologie oder den Schriftenvergleich beziehen. Moser hat offenbar nie eine Gitarren-Handschrift Fernando Sors in der Hand gehabt ... und auch das für ihn als Beweis für die Fälschung der Fantasie herhaltende Autograph von „Alfons und Leonore" kennt er nur vom Mikrofilm, der ihm im Palais Garnier in Paris in den Projektor eingelegt worden ist. Und er kommt zu diesem Schluss: „Der Fälscher und ich hatten den gleichen Einfall, jeder ist für seinen Zweck hier nachsehen gegangen und hat sich eine Vorlage verschafft von einem der Werke, das damals wie heute für Kopien zur Verfügung stand." Und dann: „Gleichsam als Coda sei angefügt: Mit den Registern der Opernbibliothek würde sich, zumindest theoretisch, nachweisen lassen, von wem und woher gegen Ende der achtziger Jahre Bestellungen des Mikrofilms oder über Kopien des fraglichen Ballett kamen. Die Suche würde möglicherweise zum Autor des Autographs führen ..." Das ist Mosers cliffhanger! Jeder will in der nächsten Folge seines Krimis wissen, wer es denn nun war ... wenn nicht längst jemand da nachgeforscht, wo Moser erstaunlicherweise gekniffen hat. Aber ich wage hier eine Behauptung: Man wird keinen verdächtigen Eintrag aus den späten achtziger Jahren finden! Ich gehe davon aus, dass das Sor-Manuskript von Sor stammt - nicht, weil ich so viele andere Gitarren-Handschriften Sors in der Hand gehabt hätte und auch nicht, weil ich mich besonders auf den Schriftenvergleich verstünde. Ich sehe aber, wie Moser seine Argumente gegen die Echtheit der Handschrift an den Haaren herbeigezogen hat und ich ahne auch, warum! Sicher wird hier noch über das Violinkonzert von Fernando Sor zu lesen sein. Die neue Auflage des Sor-Buchers von Moser, ist übrigens mit großer Vorsicht zu behandeln. Nach einer Stunde ganz normalen Lesens ist mein Exemplar in etwas über hundert Einzelblätter auseinandergefallen. Es ist nämlich nicht von einem Buchbinder in Form gebracht worden, der Bücher, wie es sein Berufsname anzudeuten scheint, bindet, sondern von einem, der sie einfach zusammenpeppt ohne vorher darauf zu achten, dass das nicht mit jeder Papiersorte möglich ist ... und überhaupt höchstens für Taschenbücher angemessen ist. Aber ein Buch, das den kühnen Preis von 35 Euro für gut zweihundert Seiten hat, sollte wenigsten den ersten Tag Lesen überdauern. Ich habe noch das eine oder andere Exemplar der ersten (fadengehefteten) Auflage von 1983. Es hat andere Mängel ... aber als Buch ist es für die Ewigkeit gemacht und kein Wegwerfprodukt!