Giuliani pop

IMG 0394 PHOTOSHOPJulian Bream: The Complete RCA Album Collection
40 CDs, 2 DVDs, Buch (in drei Sprachen, 4-farbig) mit Track-Listings und diskographischen Details sowie einem Essay von Graham Wade: »Ein erdiger, sinnlicher und hinreißend schöner Klang«
Aufgenommen zwischen 1959 und 1990, erschienen 2013
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… Sollten Sie nicht die meisten der Bream-Platten ohnehin besitzen, kann ich Ihnen den Erwerb der „Classical Guitar Anthology” nur empfehlen. Sie protokolliert ein wichtiges Stück Gitarrengeschichte des 20. Jahrhunderts und gönnt ihren Besitzern etliche Stunden vorzüglicher musikalischer Unterhaltung …

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Am 15. Juli ist er achtzig Jahre alt geworden: Julian Bream. Mehrere Generationen von Gitarristen hat er geprägt; etliche Komponisten angeregt, für sein Instrument, die Gitarre, zu schreiben. Für die Laute hat er Menschen eingenommen, die vorher höchstens eine vage Idee von diesem Instrument gehabt hatten und schließlich: Er hat mit seinen zahlreichen Platteneinspielungen Maßstäbe gesetzt, die zu einem großen Teil bis heute Geltung besitzen.

Julian Bream hat zwischen 1955 und 1958 seine ersten Platten für DECCA und ein kleines englisches Label namens Westminster aufgenommen. Gleich danach begann seine Zusammenarbeit mit der RCA, die über dreißig Jahre währen und sensationelle Ergebnisse hervorbringen sollte: Vierzig Langspielplatten, die jetzt digitalisiert in einer opulenten Kassette neu vorgelegt worden sind. Jede CD folgt in der Gruppierung der Werke genau der originalen LP und trägt auch deren ursprüngliches Cover. Nicht alle Booklet-Texte sind vollständig wiedergegeben. Das ist im einen oder anderen Fall bedauerlich, dafür sind aber zwei DVDs enthalten, die sonst nicht im Handel angeboten werden.

Royal Courts Europe70sHighlights und Schwerpunkte: Julian Breams Platte „20th Century Guitar“, aufgenommen 1966, war eine der wichtigsten Produktionen mit Gitarrenmusik des letzten Jahrhunderts überhaupt. Nicht nur hat der Interpret durch diese Produktion mehrere neue Kompositionen fest im Repertoire der Gitarristen seiner Zeit verankert, er hat für sie auch interpretatorisch Standards gesetzt. Benjamin Brittens „Nocturnal after John Dowland“ op. 70 zum Beispiel gehört seit dem Erscheinen dieser LP zum Kanon der zentralen Werke des 20. Jahrhunderts … aber hat Bream nicht diesen Kanon insgesamt definiert? Ist nicht die Kombination von „El Polifemo de Oro“ von Smith Brindle, dem „Nocturnal“, der „Quatre Pièces Brèves“ von Martin und der „Tentos“ von Hans Werner Henze (das ist das Programm der LP von 1966) seitdem zu einem Muster geworden, zu einem unumgänglichen Standard? Ich könnte eine ganze Reihe jüngerer Gitarristen nennen, die genau diese Stücke und in genau dieser Reihenfolge auf LP oder CD eingespielt haben.

Im September 1973 kam eine Platte mit dem Titel „Bream’s 70s“ heraus. Williams Waltons „5 Bagatelles“ waren enthalten und haben in der Folge weltweit Karriere gemacht. Das „Concerto for Guitar and Chamber Orchestra“ von Richard Rodney Bennett auf derselben Platte ist nicht so populär geworden … aber das liegt schon an seiner Besetzung. Eine kometenhafte Karriere, wie sie das „Concierto de Aranjuez“ von Rodrigo nach seiner Uraufführung am 9. November 1939 erlebt hat, war keinem anderen Solokonzerte für diese Besetzung beschieden, nicht einmal der „Fantasía para un gentilhombre“, die Rodrigo 1954 für Andrés Segovia geschrieben hat. Auch dieses Konzert ist – „natürlich“, muss man sagen – in der Anthologie enthalten und zwar in einer Aufnahme mit dem RCA Chamber Orchestra unter Leo Brouwer (CD-37).

„Bream’s 70s“ enthielt weiter die „Elegy“ on Alan Rawsthorne und „Theme and Variations“ von Lennox Berkeley.

Im Juni 1984 erschien „Dedication“, eine Soloplatte, die ausschließlich Werke enthält, die Julian Bream gewidmet sind: „5 Impromptus“ von Richard Rodney Bennett, erneut die „5 Bagatelles“ von Walton, „Hill Runes“ von Peter Maxwell Davies und schließlich „A Sonata on Shakespearean Characters“ mit dem Titel „Royal Winter Music“ von Hans Werner Henze. Zwei Werke mit diesem Titel hat Henze für Julian Bream geschrieben, beide sind ihm gewidmet, das erste hat er auch uraufgeführt und zwar am 20. September 1979 in Berlin.

Bream PearsDie beiden Sonaten „Royal Winter Music“ gehörten zu den meistbeachteten Gitarren-Werken des 20. Jahrhunderts. Das hing zunächst mit der Prominenz ihres Komponisten zusammen, auch mit dessen Umstrittensein und mit der Kompromisslosigkeit, mit der Henze sie geschrieben hatte. Das vielzitierte Diktum Segovias nämlich, es sei ungeheuer schwer, für Gitarre zu komponieren, hat er schlichtweg ignoriert und die Bürde des spieltechnischen Adjustierens dem Interpreten überlassen. Oft war es Julian Bream. Für ihn hat Henze die meisten seiner Gitarrenwerke geschrieben. Und Kompromisse ist Bream nicht gern eingegangen … jedenfalls keine, bei denen es an die Substanz musikalischer Kunstwerke ging. Oder er hat um sie mit dem jeweiligen Komponisten gerungen, wie man auf DVD-1 der Anthologie mitbekommt. Dort wird man Zeuge eines Gesprächs zwischen Hans Werner Henze und Julian Bream. Es geht um „Oberon“ aus der „Winter Music I“ und wir erleben eher Henze als den Kompromissbereiten.

Duos hat Bream gespielt, die damals – die Rede ist von der Zeit zwischen 1972 und 1979 – regelrecht Furore machten. Sein Duo-Partner war John Williams und die Werbung der RCA lautete: „Today’s greatest virtuosos of the guitar in their first duet album: Julian & John.“ Dem Label und den beiden Interpreten brachten die Duo- wie auch Soloplatten Breams güldene Umsätze ein: „1979 erhielt er [Bream] von RCA eine Platin-Schallplatte (für eine halbe Million verkaufter Schallplatten allein in Großbritannien) sowie Goldene und Silberne Schallplatten für seine Duo-Aufnahme mit John Williams“. [Graham Wade im Buch zur Anthologie, S. 11]

Julian & John spielten überwiegend Standardrepertoire: Carulli, Sor, Giuliani, Albéniz und Granados – dazu ein paar Überraschungen wie eine Suite von Williams Lawes (in Transkription von Julian Bream) und eine Partita von Georg Philipp Telemann, die in einer damals ziemlich obskuren Quelle in Polen gefunden worden war.

Es gab in den siebziger Jahren wenig internationale Konkurrenz, was Gitarrenduos anging. Mit dem Tod von Ida Presti am 24. April 1967 hatte zudem die Arbeit des legendären Duos Ida Presti/Alexandre Lagoya ein jähes Ende gefunden. „Julian & John“ waren – wie Dionisio Aguado und Fernando Sor, die sich zu „Les Deux Amis“ zusammenfanden – Solisten, die nur gelegentlich miteinander musizierten. Als Solisten gehörten Julian Bream und John Williams unumstritten zur Weltelite … und natürlich war es mehr als spektakulär, diese beiden Musiker, die als Interpreten sehr unterschiedlich waren, als kammermusikalische Partner auf einer Bühne zu hören. Viele Konzerte haben sie nicht gegeben, dafür zwei Studio-LPs und eine Live-Doppel-LP herausgebracht.

Dolmetsch 266Dreimal hat Julian Bream das „Concierto de Aranjuez“ für die RCA eingespielt, mit drei verschiedenen Orchestern und zwei Dirigenten: 1964 mit dem Melos Chamber Orchestra unter Colin Davis, 1975 mit dem Monteverdi Orchestra und 1984 dem Chamber Orchestra of Europe, letztere beide unter John Eliot Gardiner. Nicht nur Orchester und Aufnahme sind von Mal zu Mal „moderner“ geworden – sprich: plastischer, schlanker und frischer –, auch der Solist ist in den zwanzig Jahren, die er sich mit Aufnahmen des Konzerts befasst hat, scheinbar eher jünger als älter geworden. Natürlich sind gerade in den Jahren zwischen 1964 und 1984 die Möglichkeiten der Aufnahmetechnik förmlich explodiert, gleichzeitig sind aber der Orchesterklang entschlackt und die Linien des Soloparts solistischer nach vorne ziseliert worden. Das Ergebnis sind klarere Linien, deutlichere Klangbilder und ein irgendwie entromantisiertes Gesamtbild.

Nicht nur englische Musik hat Julian Bream zeit seines Berufslebens (in Form von Lautenmusik und Musik seiner Zeit) besonders interessiert – auch und ab den achtziger Jahren zunehmend spanische. Eine Reihe von LPs mit dem Titel „Music of Spain“ ist entstanden, auf denen nicht nur Musik für „klassische Gitarre“ dokumentiert ist, sondern Musik für unterschiedliche Zupfinstrumente. Vol. 1 (aufgenommen 1979) enthält Werke von Luis Milan und Luis de Narváez, trägt den Serientitel „Lute Vol. 1“ und ist tatsächlich auf einer Laute von David Rubio von 1968 eingespielt … nicht auf einer Vihuela de mano. Wenige Jahre später hat Bream eine Doppel-LP mit dem Titel „The Guitar in Spain“ aufgenommen, und auf der spielt er Gitarren, Vihuela und Barockgitarre, die alle José Romanillos gebaut hat. Wir nähern uns damit einem Thema, das durchaus kontrovers beurteilt wird: Breams Verwendung historischer Instrumente.

Ja, Julian Bream hat „Menschen für die Laute eingenommen, die vorher höchstens eine vage Idee von diesem Instrument gehabt hatten“, daran soll auch nicht gerüttelt werden. Und er hat auch lebendige und intensive Platten mit Musik der Zeit Elizabeths I. vorgelegt. Dass er aber „alles, was er spielte, mit Integrität und Authentizität“ erfüllt hat, wie Graham Wade meint [Booklet S. 11], ist – mit Verlaub – falsch. Julian Bream hat sich immer um die Musik bemüht, die er präsentierte, allerdings niemals mit einem Streben nach dem, was wir Authentizität nennen.

Schon die Art, wie Julian Bream Laute gespielt hat, hätte ein originales Instrument des 17. oder 18. Jahrhunderts niemals ausgehalten. Bream ist und war immer Gitarrist und niemals Lautenist. Er hat sich also, als er sich für die Laute interessierte und erkannte, dass dieses Instrument eine andere Spielweise voraussetzte als die, die er auf der Gitarre anwandte, entscheiden müssen: Ändere ich meine Spieltechnik oder ändere ich das Instrument? Er änderte das Instrument! Die erste Laute, die Bream besaß, hat er 1947 auf der Charing Cross Road in London für zwei Pfund einem Seemann abgekauft … wie der „Guardian“ in einem Interview am 13. September 2013 enthüllt (www.theguardian.com/music/2013/sep/13/julian-bream-better-musician-70. Dort, im Guardian, sind auch zwei sehr ausdrucksstarke aktuelle Fotos von Bream veröffentlicht). Thomas Goff hat dann 1951 die erste Laute gebaut, die Bream für Konzerte und Plattenaufnahmen verwendet hat: Dieses Instrument war dickwandig und schwer, um die hohe Saitenspannung aufzufangen, die Bream für seine Gitarren-Spieltechnik brauchte. Es hatte nicht nur eine einzelne Chanterelle, sondern zwei. Es hatte Metallbünde, um die von der Gitarrentechnik übernommenen Lagenwechsel zu ermöglichen und: Breams Laute hatte eine höhere Saitenlage, weil sein kräftiger Anschlag mit Fingernägeln zwar größere Lautstärke erzeugte, dafür aber auch größere Amplituden. Summa summarum war Julian Breams Laute von ihrem historischen Vorbild weit entfernt, sie entsprach aber den Bedürfnissen des Konzertbetriebs des 20. Jahrhunderts. Nun muss man bedenken, dass die Laute in ihrer langen Geschichte niemals in Konzertsälen gespielt worden ist – nicht einmal in Gesellschaften, die aus deutlich mehr als einer Handvoll Zuhörern bestand.

War Julian Bream also wirklich „the instrument’s postwar pioneer“, wie Stuart Jeffries in seinem Guardian-Interview meint? Wollte er vielleicht das Instrument sogar reformieren, es zukunftstauglich machen?

Er war nicht der Erste, der eine Renaissance der Laute anstrebte und es gab auch schon „ernsthafte“ Lautenisten, als Julian Bream mit dem Instrument bekannt gemacht wurde. In Deutschland war zum Beispiel Walter Gerwig (1899—1966) tätig, seine Schüler Eugen Dombois (*1935) und Michael Schäffer (1937—1978) wurden wenig später aktiv. Auch in England wurde schon „historische Laute“ gespielt … vielleicht gerade dort: An Arnold Dolmetsch (1858—1940) muss niemand erinnern, auch nicht an die große Diana Poulton (1903—1995), die Begründerin der Dowland-Forschung, oder an Desmond Dupré (1916—1974), den Lautenisten des Deller-Consorts, und Robert Spencer (1932—1997), den großen Sammler, Wissenschaftler und Musiker. Dupré und Bob Spencer haben mit Bream zusammen im Julian Bream Consort [CD-38] gespielt … und mir kann niemand sagen, dass Breams blecherner Ton auf der Laute, sein harscher und penetranter Gitarrenanschlag auf diesem eigentlich zarten, fragilen Instrument und sein Herausknallen von divisions und Verzierungen nicht den einen oder anderen dieser Kollegen mächtig gestört haben. Ich will Julian Bream nicht decouvrieren, weil er verfügbare Erkenntnisse über historische Aufführungspraktiken schlichtweg ignoriert hat … aber sein Spiel von Laute, Vihuela und Barockgitarre war, bei allem Respekt, völlig unangemessen.

Immer wieder haben Gitarristen versucht, „nebenbei sozusagen“ Laute zu spielen. Nie haben diese Versuche überzeugen können. Das schlimmste Beispiel ist Narciso Yepes mit seiner Aufnahme aller Lautenwerke von Johann Sebastian Bach [DGG-Archiv 2708 030]. Er hat sich dabei bis auf die Knochen blamiert!

Julian Bream ist Gitarrist, und das mit Leib und Seele. Wenn Sie mich nach meinen Lieblingsplatten der vorliegenden riesigen Anthologie fragen, gehört „20th Century Guitar“ dazu. Diese Platte hatte kurz nach ihrem Erscheinen großen Einfluss auf meinen Umgang mit damals moderner Gitarrenmusik. Und dann, sagen Sie’s bitte nicht weiter, „La Guitarra Romantica“ [CD-40] mit Stücken von Tárrega, der hinreißenden „Serenata Española“ von Joaquín Malats und anderen Höhepunkten des Repertoires. Auch die Platte mit Musik von Granados und Albéniz [CD-32] lege ich gelegentlich auf. Obwohl sich nach Julian Bream viele jüngere Musiker mit gerade diesen Stücken auseinandergesetzt haben, ist seine Interpretation beispielsweise der Tonadilla „La Maja de Goya” von Granados immer wieder ein Vergnügen für mich. Breams Spiel, kraftvoll und expressiv, die interpretatorischen Eigenheiten, mit denen er all seine Einspielungen unverwechselbar gemacht hat, mit ihnen sind viele Gitarristen und Musikfreunde großgeworden. Ich auch.

Sollten Sie nicht die meisten der Bream-Platten ohnehin besitzen, kann ich Ihnen den Erwerb der „Classical Guitar Anthology” nur empfehlen. Sie protokolliert ein wichtiges Stück Gitarrengeschichte des 20. Jahrhunderts und gönnt ihren Besitzern etliche Stunden vorzüglicher musikalischer Unterhaltung.

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass drei Platten in der Anthologie nicht enthalten sind, die nämlich, die Julian Bream nach 1990 für EMI aufgenommen hat. 1. „To the Edge of A Dream”/EMI 0777754661-2, 2. „Nocturnal”/EMI 0777754901-2 und 3. „Bach”/EMI 72345551232-1. Die CD „Nocturnal” will an den Erfolg der LP „20th Century Guitar“ anknüpfen – mit einem veränderten Programm allerdings. Das „Nocturnal” von Britten ist enthalten, auch die „Quatre Pièces Brèves" von Martin. Hinzugekommen ist die Sonata von Leo Brouwer, die Bream gewidmet ist und auch eine weltweite Karriere gemacht hat, „All in Twilight” von Takemitsu und „Melodie ludowe” von Witold Lutoslawski. Die CD „To the Edge of A Dream” ist zusammen mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Sir Simon Rattle entstanden … es gibt neben dem Werk von Takemitsu wieder einmal das „Concierto de Aranjuez”.