Luys de Narváez: Los Libros del Delphin
Xavier Díaz-Latorre, Vihuela
Aufgenommen im Dezember 2017, erschienen ℗ 2019
Instrumentarium: Tenor-Vihuela „La Aldonza“ von Carlos González 2017, Bass-Vihuela „l’Hollandaise“ von Patrick Hoopmans 1997
PASSACAILLE Records PAS 1049, im Vertrieb von Note-1
… nie mit juveniler Virtuosität protzend …
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Von Luys de Narváez stammt das zweitälteste jemals erschienene Tabulaturbuch für Vihuela de mano: Los seys libros del Delphin de música para taner Vihuela, erschienen 1538 in Valladolid. Xavier Díaz-Latorre hat jetzt sämtliche Solowerke aus diesem Band eingespielt – ein Programm von gut einer Stunde …70:04 Minuten, um genau zu sein. Vor ihm haben schon andere Musiker komplette Narváez-Programme aufgenommen: Juan Carlos Rivera (bei ALMAVIVA) zum Beispiel, Hopkinson Smith (bei ASTRÉE) und Lex Eisenhardt (bei ETCETERA) … nicht zu vergessen Pablo Marquez! Der allerdings hat das Repertoire auf der Gitarre und nicht auf der Vihuela dargeboten.
Nicht alle erwähnten Interpreten waren, was die Kompositionen von Luys de Narváez und ihre LP-oder CD-Produktionen angeht, auf Vollständigkeit bedacht – keiner eigentlich, nur will es der Zufall, dass das Œuvre von Narváez quantitativ in etwa mit der „Neunten“ von Ludwig van Beethoven übereinstimmt, wobei „quantitativ“ in diesem Fall heißt: „Was die Dauer betrifft“.
Norio Ōga, damals Vizepräsident von SONY, wurde 1982, als er daran beteiligt war, für sein Unternehmen das neue Medium „Audio-CD“ zu entwickeln, gefragt, welche Laufleistung eine CD denn haben sollte. Ōga, der – nebenbei sozusagen – auch Musik studiert hatte und die Werke von Beethoven besonders liebte, soll geantwortet haben, er wünsche sich ein Medium, auf dem „die Neunte“ von Beethoven ohne Unterbrechung, das heißt von einer Seite eines einzigen Datenträgers, abgespielt werden könne. Man untersuchte alle auf dem Markt befindlichen Aufnahmen der „Neunten“ und fand heraus, dass die längste davon 74 Minuten Dauer hatte. Dabei blieb es: Eine CD hatte ab sofort mindestens 74 Minuten Laufzeit. Das ist – zugegeben! – ein Gerücht, das niemals bewiesen werden konnte, aber ist es nicht eine hübsche Geschichte?
Das Tabulaturbuch, das uns jetzt vorliegt, ist die einzige bekannte und überlieferte Veröffentlichung von Luys de Narváez. Hopkinson Smith erwähnt zwei weitere Quellen (in „THE NEW GROVE DICTIONARY OF MUSIC AND MUSICIANS“, London u.a., 1980, Bd. XIII, S. 39), in denen einzelne Intavolierungen nachgedruckt worden sind. Die neuen Begriffe „Drucken“ und „Drucktechnik“ gehörten zu den Mode-Vokabeln des (sechzehnten) Jahrhunderts … mit „Nachdrucken“ oder gar „Plagiaten“ hat man sich allerdings zunächst nicht befasst. Aber wären nach modernem Urheberrecht nicht viele (oder alle?) Intavolierungen von Lautenisten und Vihuelisten per se Geistiger Diebstahl gewesen? Luys de Narváez hat beispielsweise sechs Kompositionen von Josquin Desprez (ca. 1450/1455–1521) bearbeitet und in Tabulatur herausgegeben, aber ähnlich haben fast alle Landsleute und Zeitgenossen verfahren. Große Teile der damals erscheinenden Tabulaturbücher waren von Instrumentalbearbeitungen voll und nur selten wurden die Komponisten der Vorlagen dabei namentlich erwähnt. Meist waren die Stücke vermutlich unter Musikfreunden bekannt … gleichwohl, würde man heute sagen, entsprach die Praxis der Herausgeber und Verleger von Musik-Sammelwerken nach 1500 den ungeschriebenen Gesetzen Intellektueller Redlichkeit keineswegs!
Luys de Narváez hat allerdings in seiner Tabulatur auch vierzehn hochkarätige Fantasien aus eigener Feder veröffentlich und Variationssätze … und genau diese Stücke sind es, die bisher im Repertoire von Gitarristen „überlebt“ haben. Autonom waren die Tanzsätze – schließlich waren sie einer Funktion verpflichtet – nicht – die Fantasien allerdings waren erste Ausprägungen „absoluter Musik“, selbst, wenn sie hie und dort zitierend auf vorhandenes Material zurückgriffen.
Hopkinson Smith erinnert (zum Beispiel in seinem Grove-Artikel) an „Mille regres — La canción del Emperador“, die immer wieder in Gitarren-Rezitals gespielt wurde und wird. Der Emperador (Kaiser) war vermutlich Karl V. (1500–1558) und „Mille regres“ (auch von Josquin, übrigens) dessen Lieblingslied (danke, Hoppy, für den Hinweis!).
Xavier Díaz-Latorre spielt zwei Vihuelas, die komplett mit Darm besaitet sind und damit erzeugt er einen sehr intimen Klang, mit dem er sein Publikum von der ersten Sekunde an in seinen Bann zieht. Gut, wir, als Konsumenten von Musikkonserven, hören sie in der Lautstärke, wie wir sie uns wünschen. Trotzdem habe ich schon Lautenisten und Vihuela-Spieler live mit dieser Musik auf authentischen Instrumenten gehört und auch da hat sie mich begeistert – sogar in respektablen Konzertumgebungen! Denn schließlich war die Vihuela nie für die große Musik da … für die feine, ja! auch für die royale und imperiale! … aber große – im Sinne von staatstragende Musik – dafür waren Vihuela und Laute nicht gemacht!
Xavier bringt bringt immer wieder Eigenes ein in die Musik, die ihm da in Tabulatur vorliegt – und das haben die Musiker um Luys de Narváez vor fast fünfhundert Jahren sicher auch gemacht. Er macht das sehr vorsichtig und respektvoll, nie mit juveniler Virtuosität protzend und doch mit einer Frische, die der Musik guttut.
Die Narváez-CD trägt auf dem Titel ein Foto aus der Seu Vella, der alten Kathedrale von Lleida, die ein Stück spanische Geschichte repräsentiert.