Ronn McFarlane ♦ Oleg Timofeyev und Ensemble SARMATICA ♦ Céline Scheen, Eduardo Egüez (Luth & Théorbe), Philippe Pierlot (Basse de Viol) ♦ Paul Beier ♦ A Garden of Eloquence ♦ Lutz Kirchhof ♦ Bernhard Hofstötter ♦ Nigel North ♦ More Hispano: Vicente Parilla, direction, Raquel Andueza, soprano ♦ Constantinople & Françoise Atlan
The Art of Vivaldi’s Lute
Ronn McFarlane, Lute
The Bach Sinfonia, Daniel Abraham
Aufgenommen im Mai 2010, erschienen 2011
SONO LUMINUS DSL-92132, Im Vertrieb von NAXOS
… der auf Wirkung zielende Musiker …
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Die „Lautenkonzerte“ von Antonio Vivaldi (1678—1741) kennt hier jeder. Speziell das Konzert D-Dur RV (Ryom-Verzeichnis 93) ist von vielen namhaften Gitarristen (natürlich auf der Gitarre) gespielt und eingespielt worden … auch von weniger namhaften, denn vor unüberwindbare spieltechnische Probleme stellt der Solopart dieses Konzertes nicht.
Aber ganz abgesehen von der Frage, ob das Konzert auf der Laute oder der Gitarre gespielt werden soll, ist es keineswegs geklärt, für welches Instrument es von Antonio Vivaldi überhaupt konzipiert war. In den handschriftlichen Partituren, die uns als Quellen dienen, ist ausschließlich die Rede von einem „Leuto“. Das kann ein Synonym von „Liuto“ oder „Lauto“ sein, den italienischen Bezeichnungen für die Laute, es kann aber auch als Hinweis auf ein anders geartetes oder anders dimensioniertes Instrument zu verstehen sein.
Die Lautenstimmen in den Partituren von Vivaldi sind nicht in Tabulatur ausgeschrieben, was Aufschluss über die Stimmung des Instruments gäbe, sondern notiert auf Violinschlüssel. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Lautenpart in anderer Tonhöhe ausgeführt werden soll, als notiert – das bedeutet, der Leuto Vivaldis war ein Sopraninstrument … nennen wir es Sopranlaute, Barockmandoline oder Mailänder Mandoline!
Ronn McFarlane ist, so kenne ich ihn aus früheren CD-Produktionen, kein Bürokrat, der streng nach den neuesten Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis seine Interpretationen plant und umsetzt. Er ist eher der auf Wirkung zielende Musiker, der sein Publikum und dessen Amüsement im Blick hat. Und so wird er auch in seiner Vita im Booklet als ein Musiker geschildert, der die Laute in den „musical mainstream“ gebracht und ihre Musik „accessible to a larger audience“ gemacht hat.
Auf vorliegender CD sind die bekannten Werke Vivaldis zusammengestellt, in denen Lauteninstrumente verlangt werden – dazu zwei „concerti ripieni“ (RV 127 und 157). Prinzipiell wird für den Generalbass kein Cembalo eingesetzt, sondern Lauteninstrumente (Laute, Theorbe) und Barockgitarre.
Für meinen Geschmack ist das D-Dur-Konzert, das bekannteste der dargestellten Werke, zu groß besetzt, zu sehr schon zu einem Konzert modernerer Machart aufgebläht. Und, just fort he record: Es wird eine „normale“ Laute verwendet, eine also, die eine Oktave tiefer klingt, als in der Partitur notiert. Um dem Ganzen dann einen modernen Touch zu geben, werden überzogene Tempi gespielt, die vor allem in der einleitenden Sinfonia (RV 127) meine Erwartungen keineswegs treffen. Das Stück läuft im Tutti ohne große dynamische Differenzierungen an mir vorbei, im langsamen Satz wird abgebremst aber dann, im abschließenden Allegro, wird wieder Fahrt aufgenommen. Reichlich schnell, reichlich laut, reichlich undifferenziert!Kleinlaut werden die Musiker in den kammermusikalischen Trios (RV 85 und 82). Aber selbst sie werden, was Tempo und Dynamik angeht, „durcheilt“. Die jeweilige Primaria hat das Sagen … obwohl gerade in dem zweiten der Trios (RV 82) feiner, sensibler gespielt wird. Hier heißt die Geigerin Ann Loud und widerlegt damit den Spruch NOMEN EST OMEN.
Das Concerto RV 540, das übrigens mit vollem Namen „Concerto con Viola d’amor e Leut e con tutti gl’Instromenti Sordini“ heißt (im Booklet heißt es prosaisch und weniger präzise „Concerto in D-Minor for Viola d’Amore, Lute, Strings & Continuo“) gefällt mir in dem Programm am besten. Hier wird kammermusikalisch gespielt. Nicht „con sordini“, wie im Originaltitel weise gefordert wird … aber durchaus uneigennützig.
The Lviv Lute
werke von Joan Ambrosio Dalza, Georg Brack, John Dowland, John Johnson, Jacob Arcadelt,, Pierre Sandrin, Benedict de Drusina, Giovanni Pacolini, Valentin Bakfark u.a.
Oleg Timofeyev und Ensemble SARMATICA
Aufgenommen im Januar/Februar 2010, erschienen 2011
SONO LUMINUS DSL-92134, Im Vertrieb von NAXOS
… fast fünfhundert Jahre später …
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Das Lviv-Lautenmanuskript wird meistens als „Crakow Lute Manuscript“ bezeichnet, weil dort, in Kraków (oder Krakau), ist es vermutlich zusammengestellt worden. Heute heißt die Handschrift Lviv-Manuskript, weil sie in Lviv (Lwów oder Lemberg) in der Ukraine aufbewahrt wird. Boetticher hat die Handschrift 1978 beschrieben (RISM B-VII), Christian Meyer (Sources Manuscrites en Tablature, Catalogue Descriptif, Vol. III/2) 1999, das gültige RISM-Sigel ist [UA-LV4 1400/I].
Das Manuskript enthält Stücke für sechschörige Laute in Normalstimmung (G–c–f–a–d’–g’), darunter freie Instrumentalstücke und Intavolierungen von Tänzen, italienischen Madrigalen, französischen Chansons, polnischen Liedsätzen sowie Motetten. Kompiliert wurde das Lviv-Lautenmanuskript zwischen ca. 1553 und dem frühen 17. Jahrhundert. In genau diese Zeit fiel die Gründung des Staates Polen-Litauen, zu dem sich 1569 das Königreich Polen und das Großherzogtum Litauen zusammengetan hatten. So entstand das größte Staatengebilde des heutigen Europa.
Das Repertoire der Handschrift unterscheidet sich nicht wesentlich von vielen anderen, auch nicht von Sammeldrucken, die anderswo herauskamen. Drei Dowland-Fantasien sind aufgeschrieben, es handelt sich aber lediglich um Konkordanzen zu Versionen, die längst bekannt sind. Einige der Intavolierungen benutzen Vokalvorlagen, die zu den „Hits“ des 16. Jahrhunderts gehört haben. Für „Susanne un jour“ von Orlando di Lasso zum Beispiel verzeichnet Howard Mayer Brown (Instrumental Music Printed before 1600, Cambridge 1967) rund dreißig Versionen … und das sind nur die gedruckten!
Wenn also die Lviv-Handschrift vom Repertoire her weniger hergibt, als man vielleicht erwartet, sind es Timofeyevs Instrumentierung und Interpretation, die besonderes Interesse verdienen. Das Ensemble Sarmatica ist besetzt mit zahlreichen orientalischen Instrumenten, Tar, Setar und Tombak zum Beispiel. Die Sänger sind weniger durch die klassische Ausbildung von Hochschulen und Konservatorien gegangen,
als vielmehr durch die der orthodoxen Liturgie. Das Ganze klingt dann weitaus weniger akademisch, als wir das gewohnt sind. Weniger stabil und gesetzt, dafür oft als Versuchsanordnung mit Improvisationen.
Timofeyev sieht in den überlieferten Tabulaturen so etwas wie Klavierauszüge des 16. Jahrhundert, Reduktionen des eigentlichen musikalischen Geschehens, die auf einem einzelnen Instrument dargestellt werden können. Zusammen mit seinem Ensemble geht er den umgekehrten Weg und versucht, die reduzierte Essenz aus der ursprünglichen Musik wieder in ensemblefähige Musik fließen zu lassen und das tut er natürlich mit der Erfahrung und den Vorstellungen eines Musikers, der fast fünfhundert Jahre später lebt. Das ist mutig und höchst spekulativ … aber es kommt den musikalischen Vorlagen sicher näher, als das fest an die überlieferten Tabulaturen gebundene Spiel.
In dem Choral „Tantum ergo sacramentum“ zum Schluss des Programms, verlieren sich Timofeyev und Ensemble zwischendurch in eine sehr weltliche, westliche und ländlich-lebenslustige Tanzmusik … aber nicht einmal so etwas kann man für das 16. Jahrhundert ausschließen … es hätte freilich anders geklungen.
Mut, manchmal Übermut, Experimentier- und Pioniergeist muss ein Musiker mit seinem Wissen um historische Aufführungspraxis paaren, um sich auf solche musikalischen Versuche einzulassen. Und der Zuhörer muss es auch. Er darf nicht an seinen ehernen und doch auf kein Beweismaterial gestützten Vorstellungen festhalten … dann kann er was erleben!
AMARANTE – Airs de Cour de Bésard, Richard, Lamber, Huygens
Céline Scheen, Eduardo Egüez (Luth & Théorbe), Philippe Pierlot (Basse de Viol)
Aufgenommen im Mai 2010, erschienen 2011
FLORA 2210, im Vertrieb von CODAEX
… von feinster Art …
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Airs de Cour sind gegen Ende des 16. und im 17. Jahrhundert in Frankreich in großer Zahl gedruckt herausgekommen. Meist waren sie mit Begleitung eines Lauteninstruments ausgeschrieben, waren aber im Vergleich zu den monodischen italienischen Gesängen der gleichen Zeit elaborierter, was die Begleitung angeht. Gesanglich waren sie eher dem „stile recitativo“ verpflichtet. Die englischen Lautenlieder, die auch „um 1600“ in Blüte standen, waren, was Melodie und Begleitung angeht, noch feiner ausgearbeitet. Hier war das Lautenspiel vollends zu einem integralen Bestandteil des Kunstwerks geworden.
[caption id="attachment_779" align="alignleft" width="540"] Air de Cour aus dem Thesaurus Harmonicus von Jean-Baptiste Besard[/caption]
Auf vorliegender CD werden Airs de Cour von Jean-Baptiste Bésard (1567—1617) gesungen, solche von Constantin Huygens (1596—1687), François Richard (beerdigt 1650 in Paris) und Michel Lambert (1610—1696). Die beiden enthaltenen Lieder von Bésard stammen aus seinem „Thesaurus Harmonicus“ von 1603; die Lieder von Huygens aus seiner „Parthodia sacra et profana occupata“ von 1647; Richard veröffentlichte zwei Bände mit Airs de Cour im Jahr 1637 und Lambert, der späteste der vier Komponisten, veröffentlichte nach 1636 mehr als zwanzig Liedersammlungen und galt und gilt – nicht nur quantitativ – als der bedeutendste Komponist dieses Genres. Leider sind von seinen Büchern nur wenige überliefert – trotzdem kennen wir von ihm über 300 Lieder. Michel Lambert nannte seine Lieder nicht mehr Airs de Cour, sondern einfach Airs. Er lieferte auch keine Sololieder mit in Tabulatur ausgeschriebenen Begleitungen mehr, sondern bis zu vierstimmige Sätze mit Basso Continuo.
Bei den Liedern des CD-Programms haben wir es also mit Airs (de Cour) zu tun, die zwischen 1603 und den späten 80er Jahren des 17. Jahrhunderts entstanden sind – die Entstehungszeit der Musik umspannt also fast ein Jahrhundert … und zwar ein Jahrhundert, in dem kultur- und musikgeschichtlich viel geschehen ist. Es war die Zeit der Abkehr von den polyphonen Strukturen der Renaissancemusik und der Zuwendung zu solistischen Gesängen, die immer häufiger einen bezifferten Bass für die Begleitung an ihrer Seite hatten. Die Komponisten waren sich dieses Wechsels durchaus bewusst und sprachen von „stile antico“ und „stile moderno“ oder, wie Monteverdi, von „prima pratica“ oder „seconda pratica“. Die Monodien, Lautenlieder oder Airs de Cour waren Inbegriffe des neuen Stils, der unter anderem die Oper hervorbrachte.
Zwischen die Airs sind auf der CD kleinere rein instrumentale Stücke gesetzt, Lautenstücke von Nicolas Vallet hie, Gambenkompositionen dort. Am Schluss des Programms steht eine „Plainte sur la mort de M. Lambert“. Plaintes sind Trauergesänge, auch Tombeaux genannt, die oft zu Ehren von Komponistenkollegen geschrieben wurden. Wir kennen von Silvius Leopold Weiss zwei Tombeaux, eines für den Baron von Hartig und eines für den Lautenisten und Komponisten M. Comte de Losy. Hier also eine Plainte für Michel Lambert:
O mort, affreuse mort, quelle est ta barbarie?
L’auteur des plus beaux airs vient de perdre la vie.
Que tout ressente nos douleurs,Que tout change dans ces bocages,
Cessez doux rossignols vos amoureux ramages,
Troublez-vous clairs ruisseaux, sechez aimables fleurs …
Die musikalischen Darstellungen, die hier geboten werden, sind von feinster Art. Céline Scheen singt auf die Art, die man sich für ältere Musik immer vorstellt: „stimmgewaltig“ und ausdrucksstark und doch auf eine Art unaufdringlich, dass man sie ob ihrer Bescheidenheit bewundert. Denn das scheinbare Ungleichgewicht zwischen Solistin und „Begleitung“ meliert zu einem Miteinander besonderer Art. In der „seconda pratica“ ist die Melodielinie immer weiter ins Zentrum des musikalischen Geschehens gerückt, ihre Ausführenden sind dabei aber nicht sofort zur „primadonna assoluta“ oder zum „primo uomo“ emporgekommen, sie blieben als „primus“ oder „prima inter pares“ Teil des musikalischen Gefüges – „stimmführend“ zwar aber doch nur „pars pro toto“. Céline Scheen spielt sich, selbst mit virtuosesten Verzierungen wie in „Les yeux baignez de pleurs“ von François Richard, nicht in den Vordergrund, auch nicht in „Amarante“ des gleichen Komponisten.
Der Lautenist Eduardo Egüez war hier schon Thema. Damals hat er Weiss gespielt, jetzt geriert er sich auf Laute und Theorbe als Begleiter … und ist genauso überzeugend. Philippe Pierlot schließlich, dem Gambenspieler, merkt man seine musikalische Herkunft an … er war Schüler des großen Wieland Kuijken in Brüssel.
Noch ein Wort zur Plattenfirma und dem Label. Die CDs von Kelys und dem Label „Flora“ sind bis ins Detail detailverliebt ausgestattet, nichts ist dem Zufall überlassen oder halbherzig ausgeführt. Das kleine Booklet enthält die Liedtexte, gedruckt auf einem Papier, das wie feinstes Bütten wirkt; gesetzt sind die Texte in der klassischen Schrift des französischen Typographen Claude Garamond (1498/99—1561) und zwar nach allen Regeln der Kunst … eine Augenweide! Und doch: Weder über die Komponisten noch die Interpreten findet man Informationen, auch nicht über die Musik. Nichts! Und das ausschließlich auf Französisch. Nicht einmal Flämisch!
Esaias Reusner: Delitiae Testudinis Volume 1
Paul Beier, baroque lute
Aufgenomen im Juni 2010, erschienen 2011
STRADIVARIUS STR 33867, im Vertrieb von Klassik-Center Kassel
… sie zeigt einen von mehreren Wegen, sich dieser Musik zu nähern …
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Esaias Reusners (1636—1679) Tabulaturbuch „Delitiae Testudinis“ von 1667 war, so führt Paul Beier aus, das erste Buch mit Lautenmusik in französischem Stil, das seit den beiden Büchern von Pierre Ballard (1631 und 1638) [RISM 16316 und 16387] und der Tabulatur „Les Oeuvres de Pierre Gaultier Orléanois“ von 1638 [RISM G 592] erschienen ist. Das heißt nicht, dass in den knapp dreißig Jahren nach 1638 keine Lautenmusik in französischem Stil entstanden und gespielt worden wäre, sehr wohl aber, dass keine solche Musik gedruckt worden ist. Außerdem: Reusners Buch war das erste, das ausschließlich für elfchörige Laute in der neuen d-Moll-Stimmung, die ab sofort beherrschend sein sollte, gedruckt worden ist. Kurz nach 1667 erschienen dann – in der „Blüte“ der französischen Lautenmusik – bedeutende Tabulaturen: „Pièces de Luth“ von Denis Gaultier [RISM G 588] ca. 1670, ein gleichnamiges Buch von Denis und Ennemond Gaultier 1680 [[1680]6] und weitere Bücher (auch unter dem genannten Titel) von Jacques Gallot und Charles Mouton.
Was lehren uns diese statistischen Aussagen? Dass, grob vereinfachend, zwischen 1640 und 1670 zwar Lautenmusik im französischen Stil gespielt worden ist, dass sich aber Druckauflagen nicht gelohnt haben, weil zu wenige Menschen an der Musik interessiert waren?
Laute und Lautenspiel waren in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Wandel! Gegen 1600 ist eine Reihe großer Tabulaturbücher erschienen, die so etwas wie eine Bestandsaufnahme darstellten … als Beispiele seien nur die beiden Kölner Publikationen von Adrian Denss (1594) und Jean Baptiste Besard (1603) erwähnt. Die Laute hatte den Umfang von zehn Chören erreicht und war traditionell in Quarten/Terz gestimmt … allerdings wurden grundsätzliche Änderungen vorbereitet. Ein „französischer Stil“ machte sich breit, ein Stil, der von den französischen Lautenisten der Zeit geprägt worden ist, von René Mesangeau (1567—1638), Ennemond Gaultier (ca. 1575—1651) und besonders von François Dufault (ca. 1604—1672). Der „style luthé“ oder „style brisé“ sollte nicht nur die Lautenisten der Zeit beeinflussen, sondern auch andere Instrumentalisten wie zum Beispiel Johann Jakob Froberger (1616—1667), der für Cembalo und Orgel komponiert hat.
Paul Beier zelebriert die fünf Suiten seiner Reusner-CD, er lässt die elegante Welt des Pariser Hofes an seinem Publikum vorbeidefilieren. Die große Geste, das Schreiten, nicht Eilen und schon gar nicht Laufen … mit diesen Worten umschreibt sich für mich der Duktus dieser Musik. Sie behält ihre royale Würde, auch in schnellen Sätzen … obgleich genau hier, in der Bemessung von Tempo und Puls, ein zentrales Problem bei der Interpretation dieser Musik liegt. Wenn ich die CD von Beier mit der zwanzig Jahre älteren von Konrad Junghänel vergleiche (Europäische Lautenmusik Vol. 2, Esaias Reusner, Deutsche Harmonia Mundi RD 77230, aufgenommen im Mai 1991), dann fällt mir dort (bei Junghänel) bei nicht so unterschiedlichen Tempi eine deutlich höhere Dynamik auf – beispielsweise in der Gigue zur Suite XI d-Moll. Deren gefühlt höheres Tempo und ihr eher tänzerischer Schwung hängen aber mit der stringenter durchgeführten Phrasierung und Akzentuierung zusammen und nicht mit dem tatsächlichen Tempo.
Lutz Kirchhof (LP Lautenmusik Schlesischer Meister, Deutsche Harmonia Mundi IOM 694 D, Aufgenommen im Oktober 1983) ist bei seinen Reusner-Interpretationen noch andere Wege gegangen. Er hat avanciertere Tempi gespielt und in schnelleren Sätzen den weichen, weiträumigen Klang der Barocklaute, der in der französischen Musik die Illusion eines scheinbar durchgehenden Legatospiels ermöglicht hat, zugunsten eines schärfer akzentuierten, fast angestoßenen Spiels aufgegeben … was die Musik nicht wirklich dynamischer gemacht hat.
Die neue CD von Paul Beier bringt uns Musik näher, die nicht unbedingt zu den Quotenrennern der Lautenmusik gehört. Und sie zeigt einen von mehreren Wegen, sich dieser Musik zu nähern. Den Königsweg hat er nicht gefunden … aber wer kennt den schon?
John Danyel: Songs to Mistress Anne Greene
A Garden of Eloquence: Katharine Hawnt, Gesang, Ziv Braha, Laute, Uri Smilansky, Bass Viol
Aufgenommen im November 2010, erschienen 2011
ETCETERA KTC 1423, im Vertrieb von CODAEX
… mehr als überzeugend …
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John Danyel (1564—1626) war einer der weniger bedeutenden Komponisten von englischen Lautenliedern … denkt man, weil man seinen Namen seltener in Programmen von CDs oder Konzerten findet. Ein Buch mit Liedern hat er herausgegeben, das den Titel „Songs for the lute, viol and voice“ trug und 1606 in London erschienen ist.
Mit dem Titel der CD – „A Garden of Eloquence“ – nehmen die Musiker Bezug auf das gleichnamige Buch von Henry Peacham (1564—1634) aus dem Jahre 1577, in dem die englische Sprache Thema ist und die Rhetorik, die mit der musica im Kanon der Lehrfächer an mittelalterlichen Universitäten zu den „septem artes liberales“ gehört hatte, zu den sieben freien Künsten.
Auch in den Liedern von John Danyel hat der Bezug zur Dichtung eine besondere Rolle gespielt – nicht nur, weil sein zwei Jahre älterer Bruder Samuel als „court poet“ höchst angesehen und vielleicht auch der Dichter einiger seiner Liedtexte war. Nein, es gibt immer wieder direkte Bezugnahmen der Begleitung auf den Text oder umgekehrt, die die Lieder von Danyel deutlich von denen seiner Zeitgenossen unterscheidet. Man höre zum Beispiel „No, let Chromatique tunes“, dann bedarf die Relation Singstimme—Begleitung keiner näheren Erklärung. Nur, dass in diesem Lied und seinen beiden „Nachbarn“ im Zusammenhang des Buches („Can doleful notes“ und „Uncertaine certaine turnes“), ein regelrecht stilkritischer Disput ausgetragen wird, und das im Text und in der Begleitung , ist sicher für ein Buch mit englischen Lautenliedern des frühen 17. Jahrhunderts mehr als ungewöhnlich.
Aber auch „Lyke as the lute delights“, wo die begleitende Laute besungen wird und, beispielweise, in der Zeile „A wayling descant on the sweetest ground“ von der Laute eine aufsteigende durchgehende Basslinie von Es bis C’ als „sweetest ground“ gespielt wird, ist ein gutes Beispiel für die innige Text–Musik–Verbindung, für die regelrecht lautmalerische Arbeit des Komponisten.
Trotz der hohen Qualität von Text und Musik ist das Œeuvre von John Danyel heute noch eine Entdeckung. „Danyels Liederbuch ist immer noch ‚fast gänzlich unbekannt’, außer bei einer sehr begrenzten Bruderschaft von Lautenisten, einigen hochspezialisierten Sängern (und den eigenartigen Musikwissenschaftlern, welche den geschickt gesetzten Lautenpart in der Begleitung dieser 20 Lieder bewundern“ schreibt Anthony Rooley im Booklet. Umso willkommener ist die neue Einspielung von Garden of Eloquence. Die drei Musiker haben sich während ihres Studiums an der Schola Cantorum Basiliensis kennengelernt und sich tatsächlich 2006 wegen einer Aufführung der Lieder von John Danyel zu einem Ensemble zusammengetan. So steht’s im Booklet und die Geschlossenheit der Aufnahme lässt keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Aussage aufkommen. Katherine Hawnt singt mit großer Klarheit und Textverständlichkeit, mit Witz, Charme und strahlenden und doch unaufdringlichen Höhen. Ziv Braha, der Lautenist, ist mehr als ein verlässlicher Begleiter. Das Gleiche gilt für den Spieler der bass-viol Uri Smilansky. Sie sind bei dieser speziellen musikalischen Konstellation zu stark ins musikalische Geschehen eingebunden, um sie überhaupt zu „Begleitern“ zu degradieren. Das Gesamtbild, das hier abgegeben wird, ist mehr als überzeugend. Das gilt übrigens sogar für die Aufmachung des Booklets und die Qualität des Texts, der ausnahmsweise sogar in einer ebenso gut übersetzten wie redigierten deutschen Fassung mitgeliefert wird.
Romance of the Lute
Lutz Kirchhof, Baroque Lute
Werke von Johann Kropfganss d. J., Silvius Leopold Weiss, Johann Friedrich Daube
Aufgenommen im Januar 2010, erschienen 2011
CENTAUR CRC 3164, im Vertrieb von Klassik-Center Kassel
… Lutz Kirchhof muss man für sein Engagement für die späte Lautenmusik danken! …
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Lutz Kirchhof, der neuerdings bei Centaur aufnimmt, kennt jeder als Interpreten spätbarocker Lautenmusik und Ensemblemusik mit Laute. Dieser Linie ist er mit dem Programm, um das es heute geht, treu geblieben … obwohl?
Rudolf Straube, der „Jüngste“ der drei Komponisten seines neuen Programms, ist 1797 gestorben – sechs Jahre nach der Uraufführung der Zauberflöte, zwei Jahre bevor Ludwig van Beethoven seine „Pathétique“ schrieb und immerhin acht Jahre nach der Erstürmung der Bastille. Auch wenn Kirchhof „Barocklaute“ spielt, Barockmusik kann das nicht mehr sein … und ist es auch nicht!
1750, das Todesjahr von Johann Sebastian Bach, wird (oder wurde) gern gleichgesetzt wird mit dem Ende des musikalischen Barock. Das ist eine unzulässige Simplifizierung oder eine krasse Fehleinschätzung, zumal man Bach längst als zwar genialen Komponisten einschätzt, allerdings als einen, der sich geweigert hat, die Zeichen seiner Zeit zu deuten. Dahlhaus nannte ihn einen „Esoteriker, der sich bewusst vor der Welt verschloss und daraus die kompositorischen Konsequenzen zog.“
Aber wie nennen wir den Stil, den die Komponisten des 18. Jahrhunderts vertraten? „Sturm und Drang“, „Galanten Stil“ oder „Vorklassik“? Oder vielleicht „Empfindsamen Stil“? Lutz Kirchhof meint, bei den Komponisten, die auf seiner CD mit Werken vertreten sind, kämen die verschiedensten künstlerischen Ansätze zusammen: „Die drei Komponisten dieser CD haben unterschiedliche Stile und nutzen die vielfältigen Möglichkeiten der Laute individuell.“ [Booklet].
Natürlich war die stilistische Wende in den 1720er, 1730er Jahren nicht per Dekret angeordnet worden, sondern „geschah“, und zwar mit unterschiedlichen Zielsetzungen und jeweils anderer Radikalität. Gemeinsam hatten die Bemühungen, dass sich die Komponisten von der komplexen polyphonen Schreibweise immer weiter entfernten und zwar mit dem Ziel eines melodieorientierten homophonen Satzes. Der „Galante Stil“, wie ihn zum Beispiel der Lautenkritiker Johann Mattheson vertrat, forderte Ungezwungenheit, Leichtigkeit und eine Abwendung vom barocken Pathos – Postulate, die ich schon in der einleitenden Courante von Silvius Leopold Weiss weitgehend erfüllt sehe
Mit der folgenden Sonata hat sich Johann Kropfganss (1708—?) schon sehr in Richtung musikalischer Klassik orientiert und Rudolf Straube schließlich (nicht Johann Friedrich Daube, wie in der Tracklist im Booklet fälschlich angegeben ist) hat mit völlig neuartigen melodischen und harmonischen Modellen gespielt und dabei Szenarien kreiert, die bislang in der Lautenmusik nie gehört worden waren. Er hat 1746 selbst zwei Sonaten für Barocklaute in Druck gegeben: „Due Sonate à Liuto solo“ – diese Ausgabe ist die Quelle für die von Lutz Kirchhof eingespielte Sonata (s. Faksimile-Ausgaben 1981 bei Chanterelle [ECH 203] und 1985 bei Minkoff [ISBN 2-8266-0891-6]).
Lutz Kirchhof muss man für sein Engagement für die späte Lautenmusik danken! Jetzt hat er wieder einmal sehr beredt vorgeführt, welche Rolle das Instrument im 18. Jahrhundert doch gespielt hat … bevor es dann in Vergessenheit geriet. Mehr noch: er hat gezeigt, dass die Laute gerade für Musik des Galanten und Empfindsamen Stils besondere Vorzüge hatte, die allerdings immer weniger Komponisten erkannten.
Dresden—Moskau
Lute Music by Silvius Leopold Weiss
Bernhard Hofstötter, Laute
Aufgenommen im Januar 2011
QUERSTAND VKJK 1011, im Vertrieb von CODAEX
… über siebzig Minuten prachtvoller Barockmusik …
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Die Werke von Silvius Leopold Weiss, die auf dieser CD vereint sind, stammen einerseits aus dem „Dresdner-Weiss-Manuskript“ [RISM-Sigel: D-Dl Mus. 2841-V-1], andererseits aus der Handschrift MS 282/8 des Staatlichen Glinka Museums in Moskau [RISM-Sigel: RF-Mcm MS 828/8] – daher der Titel der CD. Die Moskauer Handschrift, das nur am Rande, ist „im Westen erst seit den 1960er Jahren bekannt“ (Hofstötter im Booklet), liegt heute aber in einer Ausgabe bei Editions Orphee in Faksimile und Übertragungen vor und wird demnächst wie alle anderen Quellen in der Weiss-Gesamtausgabe im „Erbe Deutscher Musik“ berücksichtigt.
Bernhard Hofstötter eröffnet sein Programm mit einer Sonata B-Dur, einem Spätwerk von Weiss aus der Dresdner Handschrift (in der Weiss-Gesamtausgabe Sonate Nº 50). In der das Werk beherrschenden Sarabande entwickelt er einen weiten, generösen Lautenklang; in der Courante und vor allem dem abschließenden Presto eine Art nonchalant eleganter Virtuosität … wobei dieser Terminus eigentlich irreführend ist, denn mit den zirzensischen Künsten, wie sie hundert Jahre später überall so beliebt werden sollten und heute noch hie und dort sind, hatte das schnelle Spiel auf der Barocklaute nichts gemein. Immerhin war der Ursprung der „Sonata“, wie Weiss sie verstanden hat, die „Suite“, die aus Tanzsätzen bestanden hat.
Aber Virtuosität ist nicht unbedingt Hofstötters Ding. In Courante und Bourée der Sonata zum Beispiel gibt er sein an sich sehr konsequent durchgeführtes Phrasieren auf, das er bis dahin wenn nicht sinngebend, so doch mindestens sinnunterstützend durchgeführt hat. Auf diese Art kann ein schneller Satz rasch zu einem Kontinuum von Tönen werden, deren innere Ordnung sich nicht sofort erschließt. Aber gleich danach, nach der Bourée, tritt mit der Sarabande wunderbare Ruhe ein.
Zwei Einzelsätze in D-Dur, ein Prélude und eine Courante, stehen zwischen den beiden zyklischen Werken der CD. Beide sind im Moskauer Manuskript überliefert wie auch die folgende Sonata D-Moll.
Diese letzte Sonata endet in einem riesigen Presto von fast sechseinhalb Minuten Dauer und auch hier fehlt mir ein wenig die ordnende Hand des Interpreten … aber was heißt das schon angesichts der über siebzig Minuten prachtvoller Barockmusik, die Bernhard Hofstötter hier präsentiert?
Dies ist übrigens die zweite CD des Interpreten, die hier vorgestellt wird. 2006 hat er schon einmal Weiss auf CD angeboten und zwar zusammen mit Dolores Costoya bei ATMA. Diese CD ist hier besprochen: Gitarre & Laute ONLINE XXIX/2007/Nº 5–6/S. 41–42.
The Heart trembles with Pleasure: Music for Lute by Sylvius Leopold Weiss (1687—1750)
Nigel North, Laute
Aufgenommen im Mai 2010, erschienen 2011
IGF BGS119 , Im Vertrieg von CODAEX
… Es passt einfach! …
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Natürlich, Nigel North (*1954) ist ein Routinier erster Güte, was Lautenmusik des Barock angeht. Und seine Routine hört man … nicht etwa, weil er barocke Musik routinemäßig runterspielte, nein, weil er enorme Gelassenheit und Ruhe beim Spiel an den Tag legt. Diese Gelassenheit mag wie Distanziertheit wirken oder so, als zeige Nigel North wenig Engagement bei der Darbietung dieser Musik … aber dieser Eindruck ist, so er entsteht, falsch!
Nigel North ist seit rund 35 Jahren als Lautenist tätig in Lehre, im Konzertwesen und als Herausgeber und Autor. Allein der bei diesen Tätigkeiten gesammelte Erfahrungsschatz lässt ihn bei Aufführungen oder Plattenaufnahmen gelassener an seine Arbeit gehen, als jüngere Kollegen. Aber natürlich ist das nicht alles! Abgeklärtheit, Augenmaß und Erfahrung machen aus dem immer schon herausragenden Interpreten die Besonderheit, die er ist.
Auf seiner neuesten CD spielt Nigel North drei Partiten/Sonaten/Suiten von Silvius Leopold Weiss, dazu drei Einzelstücke, die, so schreibt er im Booklet, „drei alte Freunde“ sind: Ouverture, Fantasia und Ciaconna.
An den Interpretationen von erfahrenen Musikern wie Nigel North überzeugt mich eines immer wieder aufs Neue, und das ist deren Timing. Gemeint ist nicht (nur), ob das Spieltempo richtig ist oder ob die Tempi angemessen die Vorgaben der Komponisten oder die Gepflogenheiten der Entstehungszeit des jeweiligen Stücks widerspiegeln. Es geht um das Gefühl für Proportionen – zum Beispiel beim Verzögern und Beschleunigen, beim Auskosten von Vorhalten und ähnliches. Hugo Riemann (1849—1919), hätte das mit Agogik bezeichnet, er hat diesen Terminus in die Musikwissenschaft eingeführt … allerdings nicht im Zusammenhang mit den verzückten Verweilpausen, die Andrés Segovia „an schönen Stellen“ in die musikalischen Werke eingeschoben hat. Ich rede von natürlichen, aus dem Fluss der Musik entstandenen Abweichungen vom Metronom, ich rede vom Aufbau von Spannung … dem Halten von Spannung … und schließlich … deren Auflösung. So etwas steht nicht in den Noten, aber es ist der Code, der für die innere Spannung von Stücken verantwortlich ist.
Nigel North hat den Code geknackt, er präsentiert die Musik als in sich geschlossenes Ganzes, als stimmiges Gefüge. Dabei höre ich in seinem Spiel nie den auf Korrektheit bedachten Philologen und auch nicht den fortschrittsgläubigen „modernen“ Musiker. Es passt einfach!
Dass diese CD hier gewürdigt wird, ist eher ein Zufall! Sie ist nämlich erschienen im Label BGS (British Guitar Society Records) der IGF (International Guitar Foundation), und für dieses Laben wird es bald eine Sammelbesprechung geben. Nigel North also vorweg!
Glosas: Embellished Renaissance Music
More Hispano: Vicente Parilla, direction, Raquel Andueza, soprano
Werke von Hayne van Ghizegem, Bartolomeo Tromboncino, Luys de Narváez, Josquin des Prez, Philippe Verdelot, Diego Ortiz u.a.
Aufgenommen im April 2009, erschienen 2011
CARPE DIEM CD-16285, im Vertrieb von NAXOS
… kunstvolle, virtuose und geistreiche Umspielungen …
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Glossen sind entweder „Erläuterungen zu einem Ausdruck innerhalb eines Textes“ oder „Kommentare zu aktuellen Problemen“. So erklärt der DUDEN. Vicente Parrilla, Leiter des Ensembles More Hispano, schreibt im Booklet vorliegender CD, S. 12 „Die musikalische Glosse (deren Geschichte vermutlich ebenso alt ist, wie die der Musik selbst) hat ebenso wie ihr literarisches Äquivalent die Fähigkeit, einen (Noten-) Text zu kommentieren, verständlicher zu machen, zu erklären oder auch ihm zu widersprechen und damit einen Meta-Text zu erschaffen, der wiederum mindestens so viele neue Interpretationen zulässt, wie er Hörer findet.“
Dem musikalischen Begriff Glosa begegnet man im spanischen Repertoire der Renaissance. Alonso Mudarra kündigte bereits in Titel seiner Vihuela-Tabulatur an, sie enthalte „Composturas glosadas“ und Diego Ortiz veröffentlichte einen „Trattado de glosas“ (1553). Glosas erschienen zudem bei Erniquez de Valderrábano (1547) und Venegas de Henestrosa (1557).
Gleichzeitig gibt es im spanischen Repertoire zur gleichen Zeit den Begriff „differencia“. Beispiel sind die „veynte e dos differencias de Conde Claros“ oder die berühmten „siete differencias de Guardame las vacas“ von Luys de Narváez. Ob grundsätzlich von den Komponisten zwischen Glosas und Differencias unterschieden wurde oder ob die Termini synonym verwandt worden sind, kann nicht geklärt werden.
Die von Parillas beschriebene Hauptidee dieser Aufnahme war „die Kreation neuer Glossen über das Repertoire“. Und er erklärt: „Der Prozess dieser Neuschöpfung verlief oft unterschiedlich, von der Auswahl bestehender Glossen und Fragmente Alter Meister bis zur Neukomposition und Improvisation“.
Vicente Parrilla hat mit seinem Ensemble keine „modernen Variationen“ improvisiert oder geschrieben, er hat versucht, dem Stil des 16. Jahrhunderts zu folgen oder ihm nahezukommen. Und das hat er mit großem Erfolg getan. Silvestro Ganassi ist ihm in einigen Fällen zu Hilfe gewesen, der hat nämlich in seinen Büchern „Opera Intitulata Fontegara“ von 1535 und „Regola Rubertina“ von 1542 und 1543 („Lettione Seconda“) Anweisungen zum Diminuieren gegeben.
Mein Favorit dieser Aufnahme ist die Version des Madrigals „Anchor che col partire“ nach Cipriano de Rore (ca. 1515—1565), das ich aus vielen Intavolierungen von Lautenisten der Zeit kenne. Im „Fronimo Dialogo“ von 1568 von Vincenzo Galilei ist es in Tabulatur abgedruckt, im „Lucculentum Theatrum Musicum“ von Pierre Phalèse (auch 1568) oder im „Teutsch Lautenbuch“ von Melchior Newsidler von 1574 und etlichen anderen Büchern. Auch deren Herausgeber (außer Pierre Phalèse vielleicht, denn der ist als der erste gewerbliche Plagiator der Musikgeschichte in die Geschichte eingegangen) haben ihre eigenen Intavolierungen geschrieben, ihre eigenen Variationen eingebracht und ihre eigene Sicht der originalen Vokalkomposition zum Ausdruck gebracht. Mir geht bei der Gelegenheit übrigens der Gedanke nah’, ob nicht Intavolierungen a priori Glosas sind … oder Differencias oder Variationen? Schon die Reduktion der jeweiligen Vokalkomposition ist ein Bearbeiten.
Die Glosas von Vicente Parrilla und seinem Ensemble More Hispano jedenfalls sind kunstvolle, virtuose und geistreiche Umspielungen (im eigentlichen Sinn des Wortes) der musikalischen Vorlagen, die in ihrer Größe und Eleganz durch das kongeniale Spielwerk geadelt werden.
Noch ein Wort zum Booklet dieser wunderbaren CD: Es wäre meines Erachtens besser gewesen, den Begriff „Glosa“ nicht als „Glosse“ ins Deutsche zu übersetzen, sondern als Glosa. Der Begriff „Glosse“ hat nämlich neben den beiden bereits zitierten Bedeutungen noch eine journalistische. Von Journalisten wird als Glosse eine überspitzte, ironische Schilderung bezeichnet. Das kann zu Missverständnissen führen!
Constantinople & Françoise Atlan
Premiers Songes—Early Dreams
Werke von Sanz, Santiago de Murcia, Ribayaz, u.a,
Aufgenommen im Dezember 2010, erschienen 2011
ANALEKTA AN 29989, im Vertrieb von CODAEX
… sehr kurzweilige musikalische Unterhaltung …
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Das Ensemble Constantinople ist vor rund zehn Jahren von Kiya und Ziya Tabassian gegründet worden und befasst sich mit mündlich tradierten oder in mittelalterlichen Manuskripten aufgezeichneten Musiken des Mittelmeerraums. Die Brüder Tabassian sind in Teheran geboren und ihnen liegen vor allem die Musiken des östlichen Mittelmeerraums am Herzen. Aber das Ensemble hieße nicht Constantinople, wenn den Musikern nicht die Erforschung der Verschmelzung von Ost und West, von europäischen und arabischen und asiatischen Kulturen wichtig wäre.
Als der römische Kaiser Konstantin der Große im Jahr 330 die Stadt Byzantion zur Hauptstadt des oströmischen Reichs machte, ein neues Rom, das nach Konstantins Tod offiziell Constantinopolis genannt wurde, hatte diese Stadt schon eine lebhafte Geschichte hinter sich. Immer noch ist Istanbul, so heißt die Stadt heute, die mächtige und reiche Stadt an der Schnittstelle zwischen Kulturen – zwischen Europa, Asien und Arabien. Hier begegneten sich Musiker, Künstler, Philosophen, Wissenschaftler oder Dichter auf ihren Wegen in neue Welten, hier lernte der eine vom anderen. Die Menschen, die sich hier trafen, hatten ihre Musiken dabei, sie sprachen unterschiedliche Sprachen und tranken unterschiedliche Weine …
In ihrem Programm der CD „Early Dreams“ spielen die Musiker von Konstantinople allerdings auf andere kulturelle Begegnungen an. Hier geht es um die gegenseitige Einflussnahme in der neuen Welt, hier geht es um die Conquistadores, die ihre Kultur im 16. und 17. Jahrhundert in den Amerikas verbreiteten. Als eine Art Motto wird dabei auf die Wiederentdeckung der Juana Inés de Asbaje y Ramírez de Santillana (1651—1695), später mit ihrem Ordensnamen Sor Juana Inés de la Cruz genannt, Bezug genommen. Sie ist in Mexiko geboren und schnell ob ihrer intellektuellen Begabung erkannt worden. Mit drei Jahren lernte sie Lesen und Schreiben, mit sechzehn entdeckte der Vizekönig von Mexiko sie und holte sie an seinen Hof. Später ging sie als Sor (Schwester) Juana ins Kloster. Hier konnte sie sich ihren Studien widmen und hier schrieb sie ihr beträchtliches literarisches Werk.
Die CD „Premiers Songes“, „frühe Träume“, bezieht sich auf eine Lyriksammlung von Sor Juana, deren Notenaufzeichnungen – sie war auch als Musikerin und Komponistin bekannt – leider verloren sind. Musikalisch weicht das Ensemble Constantinople daher weitgehend auf ostinate Bassformeln zurück, die auch Ruiz de Ribayaz, Santiago de Murcia und Sanz wie viele ihrer Zeitgenossen benutzt haben. Das Improvisieren auf Basis dieser sehr verbreiteten Formeln war im 17. Jahrhundert, sehr populär.
Außerdem haben die Brüder Tabassian den kanadischen Komponisten Michael Oesterle (*1968) um eine Komposition zum Thema gebeten, die als „Tres Sonetos“ auch Teil des CD-Programms geworden ist.
Ergebnis ist eine sehr kurzweilige musikalische Unterhaltung, die natürlich eher nach Spanien, als an den Bosporus entführt. Nicht, dass es die Ostinatoformen wären, die so nach Spanien dufteten, nein, es sind die andalusischen Versatzstücke, die Flamencoelemente. Hie und dort ist auch mal ein mexikanischer Tanz eingestreut, in „La Petenera“ zum Beispiel, aber weitgehend klingt das Material spanisch … sogar das von Michael Oesterle, der sich offenbar strikt an die Vorgaben seiner Auftraggeber gehalten hat.
Die Musik, die es hier zu hören gibt, ist nicht das Ergebnis archäologischer Forschungen. Es ist – wieder einmal, muss man sagen – der Versuch, Musik, von der man weiß, dass sie vor rund 350 Jahren als Vorlage für Improvisationen gedacht war, auch so auf die Bühne zu bringen. Für meinen Geschmack ist etwas zu viel Perkussion dabei, ich weiß aber nicht, wie Musiker das im 17. Jahrhundert gehalten haben. Sonst aber wird alles geliefert, was man sich wünschen kann: virtuose Ausbrüche, lyrisches Tändeln, Klangfülle. Die Musiker sind erstklassig, ihre Spiellust ist ansteckend!