Giuliani pop

Segovia Guitar MusicSegovia: Guitar Music
Alberto La Rocca, Guitar
Aufgenommen März/April 2015, erschienen ℗ 2016
Gitarre: Masaru Kohno, 1983 [die zehnsaitige Gitarre, mit der der Interpret für ein Foto im Inneren des Covers fotografiert worden ist, stammt – so eine Information von Alberto La Rocca in einer privaten Email an den Autor – von Luigi Locatto und wurde auf der Segovia-CD nicht verwendet, wohl aber auf zwei weiteren CDs des Künstlers.]
BRILLIANT CLASSICS 95369
… Segovia hat gerne mitkomponiert …

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Dass Andrés Segovia der weltweit einflussreichste „klassische Gitarrist“ des 20. Jahrhunderts gewesen ist, wird sicher nirgends bezweifelt. Und doch: Er ist sein Leben lang und ähnlich weltweit in hohem Maß kritisiert worden – als Gitarrist, Herausgeber, Lehrer und Komponist.

Segovias Karriere hat zwar beinah‘ das komplette zwanzigste Jahrhundert umspannt – allerdings ist er als Kind des 19. Jahrhunderts geboren worden und den Traditionen und Gewohnheiten dieser Zeit verbunden geblieben. Das 20. Jahrhundert war nicht nur von zwei Weltkriegen überschattet und vom Faschismus geprägt, in den Künsten war es auch die Zeit des Abstrahierens und der Abstraktion … aber dafür hatte Maestro Segovia nicht viel übrig. Je weitergehend sich Komponisten der Atonalität verschrieben – desto geringer waren ihre Chancen, von Segovia gewürdigt zu werden. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, ich nenne hier nur die „Quatre Pièces Brèves“ Von Frank Martin, die Segovia für Jahrzehnte ignoriert und damit der Musikwelt vorenthalten hat. Sein Metier war neo-neo-romantische Musik – Portamenti waren sein stilistisches Erkennungsmerkmal. Auch sein Spiel war nämlich unverwechselbar – und zwar unverwechselbar betörend in seiner klanglichen Dichte und unverwechselbar frech in seinem Ignorieren dessen, was von den Komponisten aufgeschrieben worden war. Segovia hat gerne mitkomponiert.

Mit der Erklärung, Bach habe schließlich nicht wissen können, was im 20. Jahrhundert auf einer Gitarre spielbar sein würde, hat Segovia radikale Änderungen in der Chaconne und anderen Werken des Thomaskantors vorgenommen, um sie gitarrentauglicher zu machen … und so sind die Kompositionen schließlich auch in den jeweiligen Druckversionen bei SCHOTT in Mainz erschienen und überliefert. Und mehr noch: Andrés Segovia hat – dies ist nur ein Beispiel unter zahlreichen anderen! – eine mehrsätzige Suite des mexikanischen Komponisten Manuel Ponce als Komposition von Silvius Leopold Weiss ausgegeben und gespielt. In Noten herausgegeben hat er sie nie – das wäre wahrscheinlich zu dreist gewesen und hätte Musiker und Musikologen zu Überprüfungen eingeladen bzw. regelrecht aufgefordert. Erst der Komponist Reginald Smith-Brindle und der vor keinem Plagiat zurückschreckende Herausgeber und Verleger José de Azpiazu haben Editionen zur Verfügung gestellt … als von Weiss (1687–1750) stammend, war das Stück gemeinfrei, wäre Ponce (1882–1948) als sein Komponist bekannt gewesen, hätte es erhebliche urheberrechtliche Konflikte gegeben. Zum Beispiel hätte Ponce Tantiemen einklagen können – auch eine öffentliche Richtigstellung! Nichts davon ist offenbar erfolgt und allgemein geht man davon aus, dass Manuel Ponce mit der Regelung deshalb einverstanden war, weil er von Segovia entsprechend abgefunden worden … aber das ist nur eine Vermutung! Schließlich hat es viele Jahre gedauert, bis das Werk als Pasticcio enttarnt wurde.

Und auch hier: Don Andrés Segovia ist Traditionen gefolgt, die Generationen vor ihm entstanden waren. Er war nicht der Erste, der sich wenig oder gar nicht um historische Vorgaben scherte und schon gar nicht um solche der historischen Aufführungspraxis … aber das ist ein eigenes Thema. Als er seine Karriere begann, war es – mindestens in Spanien – kaum erst üblich geworden, „Alte Musik“ aufzuführen. Und auch eine eigene „Neue Musik“ oder überhaupt eine „spanische Musik“ wurden erst gesucht … wie Smetana und Dvořak eine tschechische und Sibelius eine finnische Musik gesucht haben und schließlich schufen. Nationale Schulen mussten sich erst herausbilden – auch in Spanien. Und dabei spielte die Gitarre eine insofern besondere Rolle, als sie vorher überhaupt keine hatte spielen dürfen. Als klassisches Konzertinstrument hatte es sie nicht gegeben.

Und Andrés Segovia? Auch er hat mehrere Funktionen ausfüllen müssen. Es hat das Instrument hoffähig gemacht – und zwar weltweit! Was das angeht, kann man mosern wie man will, man kommt nicht an seiner Leistung vorbei; auch, wenn er sie weitgehend für sich selbst und seine eigenen Karriere nach vorne getrieben hat. Dann hat er etliche zeitgenössische Komponisten ignoriert …  andere aber hat er gefördert und bekannt gemacht.

Aber hier? Hier gilt es, ihn als Komponisten zu werten und einzuschätzen. Er war ein Interpret allerhöchster Gnaden, ein Gitarrist allerhöchster Klasse … aber als Komponist? Komponiert hat Andrés Segovia Petitessen. Kein Einzelsatz auf der vorliegenden CD ist länger als vier – die meisten gerade mal eine Minute lang.

Und schließlich Alberto La Rocca: Er spielt wie Segovia – ohne wie Segovia zu spielen. Er singt, fabuliert und schwärmt auf der Gitarre, aber er spielt, was in den Noten steht. Ganz vorsichtig und keineswegs penetrant nimmt er sich dann doch einiger Segovianischer Marotten an, solcher vornehmlich, die man als stilistische Charakteristika eines Musikers bzw. einer ganzen Epoche von Interpreten und ihrer Zeit längst verstanden und zu den Akten gelegt hat, ohne erneut über sie herzuziehen. Zum Beispiel lässt sich Alberto gern in Vorhalte fallen, um sie mit großer Geste wieder aufzulösen … das war so etwas wie Segovias Kockettieren mit der Dissonanz. Aber Alberto La Rocca ist kein Epigone des Analusiers, nein, er befasst sich kritisch mit dessen Erbe und genau so setzt er sich von den zahllosen Kollegen ab, die nichts anderes tun, als den großen Segovia zu imitieren. Alberto La Rocca hat Besseres zu tun.