Giuliani pop

Päffgen Ragossnig 2002Am 3. Januar 2018 starb in Antwerpen der international bekannte und geschätzte Gitarrist, Lautenist, Lehrer und Musikwissenschaftler Konrad Ragossnig.Neben seiner Familie trauern zahllose Schüler, Freunde und Bewunderer um den allseits geschätzten Musiker.

»Ein begabter Schüler braucht lediglich einen Lehrer, der ihn nicht behindert«
Interview mit Konrad Ragossnig
Das Gespräch führte Leo Witoszynskyj am 3. Dezember 2000 in Wien

(Foto: Peter Päffgen und Konrad Ragossnig beim Forum Gitarre, Wien, 2002.  Foto: © Dorothea Päffgen)

Leo Witoszynskyj: Konrad, in Deinem vor 22 Jahren gegebenen Interview hast du sehr durchdachte Ansichten geäußert und dabei einen doch eher pragmatischen Zugang zu Fragen der Aufführungspraxis bekundet. Damals hast du viel über Klang- und Texttreue gesprochen. Was hat sich seither geändert. Haben diese Gesichtspunkte noch dieselbe Bedeutung für Dich wie damals?

Konrad Ragossnig: Ich glaube, deren Bedeutung hat sogar noch zugenommen. Die Ausbildung des Klangs ist mir bei meinen Schülern ein zentrales Anliegen – schließlich sprechen wir ja von einer Tonkunst. Aber natürlich ist die Heranbildung eines Ton- und Klangbewusstseins nur ein Faktor. So, wie es eine Klangunterschätzung gibt, gibt es auch eine Klangüberschätzung, die Klangverliebtheit. Bei dieser läuft man dann Gefahr, die Architektur, das Gerüst zu verlieren. Was die Texttreue betrifft, wäre anzumerken: Faksimile-Ausgaben und Urtext-Editionen boomen, wenngleich sie auch kritisch gelesen sein wollen!

Witoszynskyj: Welche Entwicklung haben die Gitarre beziehungsweise die Laute seit Deiner Zeit in Basel, in diesem Zentrum für Alte Musik, genommen?

Ragossnig: Die Schola Cantorum Basiliensis war schon 1933 von Paul Sacher gegründet worden.
Als ich 1964 nach Basel kam, wurde mir gesagt, dass dort einige hundert Cembali in den Haushalten anzutreffen wären, und die Konzerte waren fein und sehr qualitätvoll. In der Zwischenzeit ist auch Wien ein sehr reges Zentrum für Alte – wie auch für Neue Musik geworden. Was die Dichte des Angebots an Konzerten mit Alter Musik anbelangt, hat Wien mittlerweile sogar schon mehr anzubieten. Die vielen alten Palais sind ja auch ideale Aufführungsorte. Ganz allgemein gesagt, ist auf dem Gebiet der Alten Musik ein Professionalismus entstanden, wie er damals in diesem Ausmaß noch nicht existiert hat.
Es gibt heute hervorragende Lautenisten, hervorragende Gambisten, ja wie in allen Sparten höchste Qualität.
Eine negative Entwicklung anderer Art hat hingegen das Ensemblespiel genommen. Es wird heute in zunehmendem Maß mit ungeheuren Tempi zu punkten versucht. Bisweilen stürzt man sich mit einer gewissen Brutalität auf die Alte Musik. Wenn diese Musik dann mit olympischen Tempi und nahezu kriegerischer Lust dargeboten wird, ist mir oft angst und bange. Denn dabei kommt diese Musik nicht zu ihrem vollen Recht. Virtuosentum und der Zwang, um jeden Preis innovativ sein zu müssen, führen freilich auch manchmal zu Ergebnissen, die sehr bereichernd sein können. So ist die Aufführungspraxis Alter Musik vor allem hinsichtlich Dynamik und Artikulation differenzierter geworden. Von daher haben wir Gitarristen überaus wertvolle Anregungen erfahren.
Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist auch, dass sich nicht wenige Spezialisten für Alte Musik auch anderen Stilrichtungen geöffnet haben – bis hin zur Zeitgenössischen Musik. Hier braucht man nur die Namen Nikolaus Harnoncourt oder Frans Brüggen zu erwähnen.

Witoszynskyj: Ersterer Name steht ja auch für die Abkehr von einem Fundamentalismus in Bezug auf den Gebrauch von Originalinstrumenten oder Darmsaiten. Zu dieser Frage hast du ja schon vor 22 Jahren Position bezogen, als Du sagtest: „Ich bin mir bewusst, wie wichtig das Material ist für die Erzeugung von Musik, aber ich stelle nicht das Material über die Musik.“ Kannst Du diesen Satz aufrechtrechterhalten?

Ragossnig: Ja, ja, also (K.R. lacht) ja – und nein! Im Prinzip ja, doch gibt es „Grenzfälle“. Die Musik von Silvius Leopold Weiss etwa verlangt einfach nach einer Barocklaute, die Darstellung auf der Gitarre zwingt einfach zu vielen Reduktionen. Dieser Einwand kann aber nicht in gleichem Maße beispielsweise für die Wiedergabe von Cembalomusik auf einem modernen Klavier gelten, und schon gar nicht, wenn sie durch so jemand wie Andras Schiff erfolgt. Wie musikalisch, musikantisch, facetten- und kenntnisreich in Bezug auf die Ornamentik spielt er doch Bach! Letztlich kommt es auf die Darstellung durch den Interpreten und seine musikalische Bildung an: dass wer weiß, mit welcher Musik er es zu tun hat und wie man damit umgeht.

Witoszynskyj: Du sprichst von musikalischer Bildung. Die Ausbildung an den Musikhochschulen ist komplexer geworden. Glaubst du, hat sich der Bildungshorizont junger Musiker erweitert? Kannst Du ein erweitertes Bewusstsein gegenüber Interpretationsproblemen, stilistischen, historischen, soziologischen Fragen feststellen?

Ragossnig: Schon seit rund zwanzig Jahren ist zu beobachten, dass die Studenten sich den originalen Quellen zuwenden und kritisch an gedruckte Quellen herangehen. Das Lehrangebot ist umfangreicher geworden, was allerdings dazu führt, dass sie weniger zum Üben am Instrument kommen. Über eine solche Entwicklung in der früheren Sowjetunion hat schon Heinrich Neuhaus in seiner „Schule des Klavierspiels“ Klage geführt. Die vielen Lehrveranstaltungen sind auch mit ein Grund dafür, dass die Studenten – die Bezeichnung Schüler scheint mir passender – weniger in Konzerte gehen. Auch ist es sehr schwierig geworden, über den Einzelunterricht hinaus die Schüler zu einem Klassenunterricht zu versammeln, wie es bei meinem Lehrer Karl Scheit gang und gäbe war. Dabei wäre es doch so wichtig, anderen zuzuhören, neue Literatur, Problemstellungen und deren Lösung kennen zu lernen sowie umgekehrt Vorspielerfahrungen zu sammeln.

Witoszynskyj: Die Gefahr, sich im Dschungel der Informationsfülle zu verlieren, will ich nicht unterschätzen. Doch gerade Deine Tätigkeit als internationale Koryphäe auf der Gitarre und der Laute, als nachweislich erfolgreicher Pädagoge und Autor eines wissenschaftlich fundierten Standardwerks, des „Handbuchs der Gitarre und Laute“, könnte den Studierenden eine wertvolle Orientierung bieten. Was würdest Du ihnen darüber hinaus raten?

Ragossnig: Eine schwierige Frage! Ich glaube, dass für den Begabten der Lehrer nicht eine so große Rolle spielt. Der begabte Schüler braucht lediglich einen Lehrer, der ihn nicht behindert. Ein Begabter wird von überall etwas nehmen und wird überall etwas sehen und hören, was ihn weiterbringt. Eine Anekdote soll diese Ansicht verdeutlichen: Wenn sich in Paris die Maler trafen und Picasso erwartet wurde, hieß es: „Räumt die Bilder weg, Picasso kommt!“ Man fürchtete das photographische Auge Picassos, der die Einfälle seiner Kollegen dann in seinem Werk verarbeitete.
Ein durchschnittlicher Schüler braucht jedoch eine regelmäßige Kontrolle und muss erst zur selbständigen Arbeit herangeführt werden. Dies gilt vor allem für das Hören, das Hören anderer Instrumente, von Gesang und nicht zuletzt das sich Zuhören.
Wenn ich ganz allgemein einen Rat geben soll, möchte ich sagen: Zuerst gut lesen, gut zuhören, rhythmische Schwierigkeit durch Dirigieren – ohne Instrument – lösen.
Zweitens Disziplin. Und zwar in dem Sinn, dass Freiheit nicht aus dem Chaos entsteht. Vielmehr entsteht sie aus der Genauigkeit. Ein Text muss genau so gespielt werden, wie er geschrieben steht. Von vornherein gleich mit der sogenannten künstlerischen Freiheit zu argumentieren, dabei schaut meistens nichts heraus, der Text wird bloß unverständlich.

Witoszynskyj: Könnte man nicht die Begabung so definieren, dass jemand, der eine starke musikalische Vorstellungskraft hat, anderen voraus ist? Ich denke hier an eine Aussage des großen Cellisten Mstislaw Rostropopowitsch: „Zuerst muss der Klang im Kopf und im Herzen produziert sein. Und wenn die Idee, der Wunsch stark genug ist, vollbringen die Muskeln wahre Wunder.“

Ragossnig: Dem stimme ich vollumfänglich, ja, vollumfänglich zu! Ein musikalischer Mensch wird sich viel weniger mit der Technik herumzuschlagen haben als einer, der im musikalischen Bereich Lücken hat.

Witoszynskyj: Ein so jugendlich wirkender Emeritus wie Du kann sich doch nicht schon auf die Bärenhaut zurückziehen wollen. Du machst auch kein Geheimnis daraus, dass Du an neuen Projekten arbeitest. Können wir etwas mehr darüber erfahren?

Ragossnig: Ich habe eine enge Beziehung zum Verlagswesen und hier insbesondere zu Schott in Mainz. Zwei Publikationen haben meine Werkstätte bereits verlassen und stehen vor der Fertigstellung. Das eine ist ein Kompendium mit dem Titel „Gitarrentechnik kompakt“. Auf dem Weg von der Allgemeinen Technik, wie sie Karl Flesch nennt und unter welcher man sich eine musikalische Gymnastik vorstellen kann, über die Angewandte Technik, die sich an einer konkreten Komposition bewähren soll, bis hin zur musikalischen Interpretation habe ich mich dem ersten Schritt dieses Prozesses gewidmet und zwölf Grundformen dieser Allgemeinen Technik zusammengefasst: zum Einspielen und zum täglichen Üben, für Unterricht und Beruf.
Die andere Publikation ist eine revidierte und aktualisierte Ausgabe des „Handbuchs der Gitarre und Laute“. Der textliche Bereich wurde um Hinweise zum Auftrittsverhalten, Lampenfieber u.a.m. erweitert, neue Interpreten, Gitarre- und Lautenbauer finden Erwähnung. Zusätzliche Literaturangaben bis hin zu Internetadressen werden aber dennoch nicht den Rahmen eines Handbuchs sprengen, schließlich soll ja auch noch etwas Platz für eine vierte Auflage bleiben. Dazu kommt eine Reihe praktischer Ausgaben. Außerdem plane ich ein Lexikon mit Sachthemen von Acciaccatura bis – sagen wir – Zarge. Da muss ich zuvor noch einige Karteiarbeit leisten. Sosehr mir das mit der Bärenhaut gefällt, so möchte ich auf dieser sehr gerne Zeit zum Lesen finden und verspüre auch den Wunsch, mich mit Literatur zu beschäftigen, und, last not least, natürlich – zu musizieren, besonders in Kammermusikbesetzungen, u.a. mit Peter Schreier, mit meinem Sohn Thomas (Cembalo und Hammerklavier) sowie dem Flötisten Peter-Lukas Graf.

Witoszynskyj: Konrad, ich danke Dir für dieses ausführliche Gespräch und verzichte auf die letzte Frage, die da gelautet hätte: Was scheint Dir für die Zukunft der Gitarre wichtig zu sein?

Ragossnig: Also, was ich mir wünsche, ist, dass der Touch der Unterhaltungsmusik, der in allzu reichem Maße in vielen Konzertprogrammen Einzug gehalten hat, dass diese Welle der Popularmusik ihren entsprechenden Platz im Zugabenteil findet und nicht – wie so oft – die Hälfte des Konzertes ausmacht. Bei anderen Instrumenten wäre eine derartige Gewichtung, wie sie bei der Gitarre viel zu oft stattfindet, undenkbar. Für ihr Ansehen, für das so viele Vorbilder gekämpft haben, wäre das mehr als begrüßenswert.

Dieses Interview ist ursprünglich erschienen in GITARRE-und-LAUTE-PRINT XXII/2000/Heft 6, S. 63—64. In der gleichen Ausgabe ist auch das erste Gitarre & Laute-Interview mit Konrad Ragossnig nachgedruckt worden: ursprünglich GITARRE-und-LAUTE-PRINT I/1979/Heft 1, S. 3—7