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MUENCHEN WETTBEWERB 2FOTO: Preisträger (Gitarre) beim 66. Internationalen Musikwettbewerb der ARD, Prinzregententheater, 9. September 2017 (v. lks.) Andrey Lebedev (3. Preis), Davide Giovanni Tomasi (2. Preis), Junhong Kuang (2. Preis). Foto © Daniel Delang, Bayerischer Rundfunk

Vierundzwanzig Jahre ist es her, dass die Gitarre zuletzt im Internationalen Musikwettbewerb der ARD berücksichtigt worden ist. Damals gab es keinen ersten, dafür zwei zweite Preise: Joaquín Clerch (Kuba) erhielt einen davon, Pablo Márquez (Argentinien) den anderen.

Auch in diesem Jahr haben sich die Juroren nicht zur Vergabe eines Preises der Top-Kategorie entscheiden können. Wieder gab es keinen ersten, allerdings zwei zweite Preise und die gingen an Junhong Kuang (China) und Davide Giovanni Tomasi (Italien/Schweiz), einen dritten Preis erhielt der Australier Andrey Lebedev. Und überhaupt: In bisher fünf Austragungen des Wettbewerbs, an denen die Gitarre beteiligt war, ist nur einmal ein erster Preis vergeben worden – das war 1989 und der Preisträger war Luis Orlandini aus Chile. Gleichzeitig haben sich renommierte Kollegen mit zweiten Preisen zufriedenstellen müssen. Unter ihnen waren Sharon Isbin, die später als Erste Professorin für Gitarre an der Juilliard School of Music in New York wurde, Stefano Grondona, heute Professor an der Hochschule von Vicenza und Timo Korhonen, Professor in Helsinki.

YamashitaNicht nur Gitarristen sind in diesem Jahr als höchstens zweitklassig bewertet worden, auch bei Geigern und Oboisten gab es keine ersten Preise. Nur unter den Pianisten konnte der Südkoreaner JeungBeum Sohn einen Top-Preis für sich sichern. Der „Internationale Musikwettbewerb der ARD“ versteht sich nicht als Fördermaßnahme oder Karrieresprungbrett und schon gar nicht als eine Art Stipendium. Die Kandidaten, die sich hier bewerben, sind Musiker und keine Musikstudenten – so jedenfalls war es geplant. In der Ausschreibung des Wettbewerbs von 1989 hieß es: „Bei diesem internationalen Musikwettbewerb handelt es sich um eine Auslese unter jungen Musikern, bei denen Podiumsreife vorausgesetzt wird. Die Anforderungen sind daher hoch und die Preise nur für außergewöhnliche Leistungen gedacht.“ Um das angestrebte hohe Niveau zu erreichen und zu halten, wurden die Anforderungen so hoch angesetzt, dass schon 1982, beim zweiten ARD-Wettbewerb mit Gitarre, gemutmaßt wurde „dass auch in diesem Jahr kein erster Preis (im Fach Gitarre) vergeben werde, da keiner der Teilnehmer sich auf alle Pflichtstücke vorbereiten könne“ (Gitarre & Laute IV/1982/6, S. 331). Zu den geforderten Repertoire-Stücken gehörte damals schon – neben anderen zentralen Werken der Neuen Musik – die erste Sonate der „Royal Winter Music“ von Hans Werner Henze, die nicht nur sehr umfangreich und von höchster Schwierigkeit ist, sondern gerade (am 20. September 1976 von Julian Bream) uraufgeführt worden und danach erst im Druck erschienen war.

Als die Gitarre 1976 in den ARD-Musikwettbewerb aufgenommen wurde, gab es bereits verschiedene internationale Wettbewerbe für dieses Instrument – die meisten davon waren allerdings reine Gitarrenwettbewerbe. Der älteste und sicher renommierteste davon war der von Radio France, der „Concours International de Guitare“, der schon 1959 gegründet worden war. Gründer und Leiter bis 1993 war Robert J. Vidal, der 1982 in München in der Jury gesessen hat. Zwei weitere Gitarrenwettbewerbe von internationalem Ruf sind der „Concorso Internazionale di Chitarra Classica Michele Pittaluga“ (seit 1968) in Alessandria oder der „Certámen Internacional de Guitarra Francisco Tárrega“ in Benicásim (gegründet 1967). Sie sind nur zwei Beispiele unter etlichen, die sich ausnahmslos die Förderung der Gitarre als klassisches Konzertinstrument zum Ziel gesetzt haben. Keiner von ihnen stellt so hohe Anforderungen beispielsweise an das Pflichtprogramm wie der ARD-Wettbewerb. Die Listen der Teilnehmer und Preisträger der erwähnten Wettbewerbe – Alessandria, und Benicásim – haben zahllose Überschneidungen, die ausgelobten Preisgelder sind vergleichbar … nur, hier werden sie auch vergeben! In diesem Jahr ist in München erneut die Klage vernehmbar gewesen, dass beim ARD-Wettbewerb ansehnliche Preisgelder in Aussicht gestellt, sie aber nur zu selten vergeben werden. Diese Befürchtung soll auch talentierte Musiker von einer Teilnahme abgehalten haben.

Und doch! Es waren 640 Musikerinnen und Musiker aus 53 Ländern, die sich für den Wettbewerb in vier Kategorien (Klavier, Violine, Oboe und Gitarre) eingeschrieben haben. 198 von ihnen sind, nachdem eine erste Auswahl anonym über Tonaufnahmen vorgenommen worden ist, nach München eingeladen worden. 44 der Zulassungen gingen an Gitarristen.

Die Jury war international besetzt: Eduardo Fernández war ihr Vorsitzender, Dale Kavanagh, Łukaz Kuropaczewski, Carlo Marchione, Pablo Márquez, Jürgen Ruck und David Tanenbaum die Mitglieder. Wie immer ist nicht jeder Zuhörer mit jeder Entscheidung einverstanden oder zufrieden gewesen – auch nicht mit der Entscheidung, dass es wieder keinen Ersten Preis gegeben hat. Aber die Jury hat die richtige Wahl getroffen – die Semifinalsten und schließlich Finalisten waren sich musikalisch sehr ähnlich. Der eine Kandidat war technisch eloquenter und betonte das auch, der andere eher klangverliebt. Eine junge Gitarristin hätte ich gern im Finale noch einmal gesehen und gehört, Kanahi Yamashita, und ich gebe zu, dass dies hauptsächlich wegen ihres familiären Hintergrunds ist. Sie ist nämlich die Tochter des vor vielen Jahren ebenso bewunderten wie umstrittenen Kazuhito Yamashita, mit dem ich lange Gespräche über Musik und die Welt geführt habe. Kazuhito Yamashita war der, der die „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgski auf der Gitarre gespielt hat, danach das Beethoven-Violinkonzert oder die „Feuervogel-Suite“ und dafür entweder Schallplattenpreise oder Beschimpfungen eingesteckt hat. Wie weit seine Tochter, die von ihm Unterricht bekommen hat, seine künstlerische und spieltechnische Genialität geerbt hat, hätte ich gerne herausgefunden.

Jedenfalls wurde das „Semifinale“ von Kanahi Yamashita, Andrey Lebedev (Australien), Yang Hao (China), Davide Giovanni Tomasi (Italien/Schweiz), Gian Marco Ciampa (Italien)und Junhong Kuang (China) bestritten. Sie spielten zusammen mit dem exzellent aufgelegten Novus String Quartet und zur Auswahl standen zwei Werke. Das erste war, wie kann es anders sein, das Quintetto von Mario Castelnuovo-Tedesco, das man eigentlich viel zu selten hört, an diesem Abend aber fünfmal in Folge. Andrey Lebedev war der Einzige, der das alternative „Concertino da camera“ von Eugène Bozza ausgewählt und gespielt hat. Das wäre, wegen der Abwechslung an diesem Konzertabend, zu begrüßen gewesen, wenn nicht das Quintett von Castelnuovo-Tedesco ein so viel besseres Werk für diese Besetzung gewesen wäre. Vielleicht wäre das Quintett „Triptico“ von Roberto Sierra in der gleichen Besetzung eine attraktive Alternative gewesen? Daran hat offenbar niemand gedacht.

Alle sechs Semifinalisten spielten dann noch die Auftragskomposition des diesjährigen ARD-Wettbewerbs, das Solostück „Interfret“ für Gitarre solo von Vito Žuraj. Die Komposition schöpft aus, was die Gitarre an Klängen bereithält. An Klängen und an Überraschungen. Es dauert acht Minuten, die den sechs Interpreten und Wettbewerbsteilnehmern wenig Möglichkeit gaben, sich gegenseitig zu profilieren. Wer sich an diesem Abend für das Finale qualifizierte, tat das mit Kammermusik.

Und schließlich das Finale. Es fand statt im Prinzregententheater, in dem heute auch die Bayerische Theaterakademie August Everding residiert. An diesem 9. September 2017 spielte das junge, frische, wohldisponierte Münchner Rundfunkorchester unter ihrem Dirigenten David Reiland. Drei Solisten, die hier naturgemäß schon im Semifinale erwähnt worden sind, waren zu begleiten: Tomasi, Lebedev und Junhong Kuang. Sie hatten die Wahl zwischen vier unterschiedlichen Konzerten für Gitarre und Orchester: 1. „Trois Graphiques“ von Maurice Ohana, 2. „Concierto del Sur“ von Manuel Maria Ponce, 3. „Concierto de Aranjuez“ von Joaquín Rodrigo und 4. Konzert für Gitarre und Orchester von Heitor Villa-Lobos. Alle drei Finalisten haben sich für das Rodrigo-Konzert entschieden. „Erwartungsgemäß“ würde an dieser Stelle jeder Zuhörer mit Wettbewerbs- und Juryerfahrung sagen: Fast immer wählen junge Gitarristen den Repertoire-Hit „Concierto de Aranjuez“. Dieses Konzert war vor ein paar Jahren das meistgespielte klassische Solokonzert überhaupt … vor Beethoven/Violinkonzert oder den „Vier Jahreszeiten“. Ob das heute noch so ist und ob das „Concierto de Aranjuez“ überhaupt noch den Stempel „klassisch“ trägt, muss hier nicht entschieden werden. Klar ist aber, dass diese Komposition ungemein populär ist. Das reicht für einen Solisten schon als Argument, dieses und kein anderes Konzert für einen Wettbewerb auszuwählen. Das Publikum entscheidet zwar nicht darüber, ob ein Solist einen Wettbewerb gewinnt oder nicht, aber es beeinflusst die Stimmung im Konzertsaal. Außerdem haben viele Gitarristen dieses Konzert schon einmal einstudiert und haben es drauf. Auch das spricht meistens für das „Concierto de Aranjuez“.

Davide Giovanni Tomasi war der Erste, der es an diesem Abend vortrug. Unter den drei Finalisten war er „der Italiener“, der Belcanto-Gitarrist. Andrey Lebedev wirkte eher um spanisches Flair bemüht ohne es wirklich verinnerlicht zu haben und schließlich: Der Chinese Junhong Kuang brillierte mit kristallklar perlenden Läufen und Umspielungen, mit virtuos unaufdringlicher Eleganz „aus dem Ärmel“. Er nahm das Publikum für sich ein …offenbar nicht die Juroren! Davide Giovanni Tomasi und er bekamen je einen Zweiten Preis, Andrey Lebedev den Dritten.

Aber es gab mehr zu verteilen. Junhong Kuang erhielt den Publikumspreis und den ifp-Musikpreis; Andrey Lebedev den für die beste Interpretation der Auftragskomposition. ­­­Wann Oswald Beaujean und Dr. Meret Forster, die künstlerischen Leiter des ARD-Wettbewerbs, die Gitarre wieder reinnehmen wollen, haben sie nicht verraten!