Anton Stingl: Ausgewählte Werke für Gitarre solo
Andreas Stevens, Gitarre
Aufgenommen im Dezember 2012, erschienen 2014
Gitarre: Urs Langenbacher, Sondermodell für Andreas Stevens 2008
AUREA VOX 2014-4
… keine blassen Spielereien, nichts aufgesetzt Virtuoses …
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Anton Stingl (1908–2000) war – auch, wenn ich mit dieser Bemerkung Eulen nach Athen trage – Gitarrist, Hochschullehrer und Komponist. Als Lehrbeauftragter und dann Professor an der Musikhochschule Freiburg hat er nach 1971 zahlreiche Musiker ausgebildet, die später glänzende Karrieren machen sollten; für die wunderbare Sängerin Oksana Sowiak hat er mehrere Zyklen Volkslieder aus aller Herren Länder arrangiert, mit sensiblen Gitarrenbegleitungen versehen und dann auch aufgeführt und eingespielt und schließlich: Anton Stingl hat immer wieder an Ur- und Erstaufführungen von (aus einer Sicht) zeitgenössischen Werken teilgenommen. Und all dies sind nur Beispiele für das, was Anton Stingl interessiert, bewegt und beschäftigt hat. Nebenbei und ohne professionelle Absichten war er noch Bryologe, befasste sich also mit Moosen.
Die CD, um die es heute geht, enthält Stücke von Stingl, die bisher weder veröffentlicht noch eingespielt worden sind. Es hat zwar 1997 zwischen Stingl und dem Rezensenten bzw. seiner Firma, der Gitarre & Laute Verlags GmbH, einen Verlagsvertrag gegeben, die geplante Ausgabe ist aber leider aus verschiedenen Gründen nicht mehr erschienen. Vorher hatte Stingl bei Schott in Mainz verschiedene Ausgaben herausgegeben und sie alle spiegelten wider, welcher Art von Musik und Gitarrenkunst er sich verpflichtet fühlte. Heute noch stehen von ihm bearbeitete „Lieder ohne Worte“ von Mendelssohn im Katalog, Sonaten von Diabelli und Inventionen von Johann Sebastian Bach … keine blassen Spielereien, nichts aufgesetzt Virtuoses, dafür Melodien und überschaubare, dafür aber immer stimmige musikalische Strukturen.
Diesen Präferenzen und Prinzipien ist Anton Stingl auch als Komponist gefolgt. Andreas Stevens hat Werke für seine CD ausgewählt, die ganz deutlich eine musikalische Sphäre in den Vordergrund rücken: das deutsche Volkslied. Und gerade hier, wo die Zuhörer mit allbekannten Melodien durch das Programm begleitet werden, wird Stingls kompositorisches Handwerk herausgestellt. Den Anfang zum Beispiel macht seine „Sonatine op. 15a nach Kinderliedern“ (1936), wo „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh“ und ein Rondo auf „Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann“ auf sich aufmerksam machen … neben einem kurzen Vorspiel und einem textlich nicht benannten Wiegenlied. Hier versucht sich Anton Stingl ganz behutsam mit harmonischen Verfremdungen und einem leichten Abweichen von der volksliedhaften musikalischen Sprache, die man „eigentlich“ erwartet und auch von dem konsequenten Vermeiden jeglicher Virtuosität. Vor allem im „Butzemann-Rondo“ werden nun schon das Beherrschen flotterer Tempi und durchaus raffinierter Techniken verlangt.
Andreas Stevens tritt mit seiner CD nicht nur als Entdecker ins Rampenlicht, sondern auch als ausübender Musiker und gerade in dieser Rolle kommt er Anton Stingl ziemlich nah‘. Er ist nämlich kein Musiker, der mit Tempo und virtuosem Blendwerk überraschen will, sondern mit musikalischer Stringenz. Im Gegenteil bringen ihn Passagen im schon erwähnten „Butzemann-Rondo“ fast in Verlegenheit … aber das macht ihn eher sympathisch, weil er eben nicht dem postjuvenilen Ideal vom Höher-schneller-weiter nachhängt, sondern sich selbst in den Dienst der Musik stellt. Den Tango op. 9 wünschte ich mir vielleicht etwas lasziv-tänzerischer, seinen Abschluss weniger explosiv … aber „Sobre los gustos no hay disputo“ … wie Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755–1826) gemeint hat. Er, Brillat-Savarin, hat die spanische Redewendung latinisiert und damit die weltweit bekannte und respektierte Regel in Stein gegossen: „Über Geschmäcke kann man nicht streiten!“ … nicht einmal darüber, ob es nun Geschmack heißt, Geschmäcke oder „Geschmäcker“. Konrad Dudens Nachfahren meinen, es hieße „Geschmäcke“!
Andreas Stevens liefert uns eine Auswahl an Spielliteratur für Gitarre, die Anton Stingl zwischen 1933 und 1989 geschrieben hat. Opera 15a–40. Kein Satz länger als ein paar Minuten, keiner irgendwie fremd, dabei ist in den Jahren zwischen der „Sonatine op. 15a nach Kinderliedern“ von 1933 und der „Aeolus Flageolett-Studie“ von 1989 viel geschehen: ein verheerender Krieg, Neuanfang, Kampf ums Überleben. Und natürlich haben Kunst und Kultur widergespiegelt, was die Bevölkerung durchleben musste. Stingl blieb zeit seines Lebens bei seiner friedfertigen und fast harmoniesüchtigen Sicht der Dinge. Ein Konformist war er nie, auch kein notorischer Jasager – aber ein Ästhet!