Raphaella Smits: Guitar Recital
Werke von Ponce, Barrios, Mompou
Aufgenommen im Dezember 2016
Gitarre: John Gilbert 1980
ACCENT SR 1084, im Vertrieb von Note-1
… außerordentlich klangsensible Musikerin …
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Das Programm dieser CD beginnt mit einem Kuriosum des 20. Jahrhundert, der Weiss-Suite, die Manuel Maria Ponce (1882–1948) komponiert hat. Kurios ist an diesem Stück erstens, dass ein Komponist und einer der von ihm favorisierten Interpreten, Andrés Segovia nämlich, eine umfangreiche Komposition als von einem anderen Komponisten stammend ausgegeben haben. Der angebliche Schöpfer des Werkes, so ist kolportiert worden, sei Silvius Leopold Weiss (1687–1750) gewesen, ein Tonschöpfer, der rund zweihundert Jahre vor Ponce gelebt hat. Segovia hat diese Suite von Weiss in Konzerten gespielt und er hat auch eine Plattenaufnahme des Stücks bei der Deutschen Grammophon veröffentlicht. Die erste gedruckte Ausgabe des Werks ist schließlich – herausgegeben von José de Azpiazu – 1954 erschienen und zwar mit diesem Vorwort:
„J’ai écrit le manuscrit de la présente édition de la merveilleuse SUITE EN LA MINEUR (pas en la majeur) de S. L. Weiss en 1940 après làvoir écoutée plusieurs fois sur disque His Master’s Voice interprétée par Maestro Andres Segovia. Je me suis servi de ce disque parce qu’il m’était impossible de trouver une ancienne édition de cette oeuvre. Je sais que d’autres guitaristes comme Sainz de la Maza, Alfonso, Garcia de la Mata, Abloniz etc. ont agi de la mème façon; nous tous avons eu le désir de donner au public le possibilité de jouer cette oeuvre géniale de S. L. Weiss.“ [Genève, le 18. Janvier 1958. José de Azpiazu]
Und nun zweitens: Wie kommt es, dass niemand Fragen gestellt hat? Zum Beispiel: Welche Quellen haben Maestro Segovia zur Verfügung gestanden, als er seine Ausgabe des Stücks angefertigt hat? Und schließlich: Wieso haben nicht Musikwissenschaftler und Lautenisten Alarm geschlagen, als das Stück in der ganzen Welt bekannt wurde? Das ist doch keine Barockmusik! Azpiazu hat die eine Frage quasi beantwortet: Das Motto „AD FONTES“ war zwar bekannt, wurde aber allgemein und im Besonderen von Gitarristen, die sich als Herausgeber betätigten, nicht geachtet. Das heißt, dass das Fehlen von Quellen nicht aufgefallen ist, weil die Kollegen ohnehin auch abgeschrieben haben.
Es folgen auf der CD drei Stücke („Preludio en la menor“, „Preludio en do menor“ und „Leyenda Guarani“) von Agustin Barrios Mangoré (1885–1944). Melancholie umschwebt diese Stücke, Melancholie bis hin zu Depression … und keine lateinamerikanische Ausgelassenheit, die man vielleicht erwartet. Aber in den Vierzigern, als Barrios die Stücke schrieb, durchstand er eine Lebenskrise. Von Deutschland ausgehend – genau dort hielt er sich nach 1935 für eine Zeit auf – braute sich ein Weltkonflikt zusammen, der in einen furchtbaren Krieg und in verheerende Verbrechen mündete. Keine Zeit für Tänze und Gesang! Die „Leyenda Guarani“, die wir auf der CD hören, ist unvollendet überliefert — Raphaella Smits hat sie zu einer vollständigen Komposition ergänzt, und das ist ihr gut gelungen. Die unvollständige und für die Edition ergänzte Version ist im Verlag Tuscany Editions in Florida erschienen (#494027000) und erst danach zu der unveröffentlichten Ausgabe ergänzt worden, die auf Raphaellas CD zu hören ist.
Und schließlich Federico Mompous „Suite compostelana“, die Bezug nimmt auf den (auch gitarristischen) Wallfahrtsort Santiago de Compostela. Dort soll bekanntlich im neunten Jahrhundert das Grab des Heiligen Jakob (Sant Jago), einem der Jünger Jesu, gefunden worden sein und dabei soll sich für alle sichtbar ein Sternenfeld geöffnet haben (ein „campus stellae“ … siehe Compostela). Na gut, ob die Knöchelchen, die im Kölner Dom als Reliquien der Heiligen Drei Könige verehrt und angebetet werden, tatsächlich von den Königen sind und ob die überhaupt Könige waren, weiß niemand so genau. Das Gleiche gilt hier, im Heiligen Köln, für die Reliquien der elftausend Jungfrauen, die den Ursulakult umgeben und den Bürgern in den Jahrhunderten, seit sie gefunden worden sind, viel Geld eingebracht haben.
Federico Mompou hat nicht Köln, sondern den anderen großen europäischen Wallfahrtsort besungen, Santiago de Compostela, und zwar weniger wegen des Heiligen, der dort gefunden worden war, sondern wegen der Meisterkurse, die Andrés Segovia viele Jahre dort gegeben hat. Die Suite jedenfalls ist kontemplativ und nie aufregend. Sie beschreibt, den Eindruck habe ich, einen Spaziergang durch Santiago – vorbei an den Pilgerströmen, die längst von Touristenströmen abgelöst worden sind, die keinen Schritt zu Fuß gegangen sind und doch vom Ewigen Segen träumen. Katholisch muss man nicht ein, um nach Santiago zu pilgern oder auch „nur“ zu wandern, aber Respekt sollte man aufbringen für die, die Hunderte von Kilometern auf dem Weg zum Grab des Heiligen Jakob schon hinter sich haben.
Raphaella Smits hat sich wieder einmal als außerordentlich klangsensible Musikerin ausgewiesen. Die gesungenen, langsameren Sätze wie die Sarabande bei Ponce, „Leyenda Guarani“ von Barrios und der Choral bei Federico Mompou sind ihr besonders gelungen – was nicht heißen soll, dass sie sich als Frau gänzlich von virtuosen Kunststücken fernhielte. Nehmen wir vielleicht die Gigue bei Ponce … Raphaella kann auch schnell! Als sportlichen Wettbewerb missbraucht sie die Musik allerdings nie – das ist eher Männersache!