Giuliani pop

SEGRE 4842512 origJohann Sebastian Bach: BWV 995, 997 & 998
Emanuele Segre, Gitarre
Aufgenommen 2016, erschienen 2016
CD & DVD LIMEN CDVD082C082 (Nummerierte Edition)
… eine eher unitalienische Interpretation …

Emanuele Segre spielt auf seiner neuesten CD drei zyklische Lautenwerke von Johann Sebastian Bach (BWV 995, 997 und 998), dabei stellt Luca Ciammarughi gleich im zweiten Satz seines klugen und von großem Wissen geprägten Booklet-Textes zur CD fest, die Annahme, Bach habe Werke spezifisch für Laute solo konzipiert, sei „storicamente falsa“ … nicht „umstritten“ oder „zweifelhaft“, sondern „historisch falsch“! Im weiteren Text erläutert Ciammarughi die Argumente, die das Lautenwer(c)k (auch Lautenklavier oder Lautenclavicymbel genannt) als das Instrument favorisieren, für das die „Lautensuiten“ ursprünglich geschrieben worden sind – ein Tasteninstrument, das wie die Laute mit Darm besaitet war und ihr daher klanglich ziemlich nahekam. Wir wissen, dass Bach im Besitz zweier solcher Musikinstrumente gewesen ist und dass er sie geschätzt hat.

Segre Emanuele Bach CDDie uns überlieferten Lautenversionen der betreffenden Werke sind also Transkriptionen. Weiter heißt es (in der englischen Übersetzung des italienischen Originaltextes S. 17): „As for the debate about the correctness of performing Bach’s keyboard music on a modern piano, also the adaptability of the so-called „lute music“ to the modern guitar is a false issue. Since it is unlikely that these suites were performed by Bach on the lute, the guitar version isn’t less philologically correct than the one for lute.“ Dieses Argument überzeugt … allerdings nur, so lange man Lautenwerk und modernes Klavier auf der einen und dreizehnchörige Barocklaute und moderne sechssaitige Gitarre auf der anderen Seite als Geschwister oder mindestens enge Verwandte betrachtet. Aber wir sollten solche sophistischen Betrachtungen vermeiden … zugunsten der Erkenntnis, dass die Werke von Johann Sebastian Bach ohnehin in ihrer Einzigartigkeit transferabel von einem Medium zum anderen sind.

Segre wirkt sehr distanziert und kontrolliert in seinen Bachinterpretationen. Nicht nur lässt er sich nie und nimmer zu zweifelhaften gitarrenspezifischen Besonderheiten hinreißen, er hütet sich auch vor übertriebenen Tempi oder zu üppigem Auszieren. Dafür sorgt er im Kleinen wie im Großen für Ausgewogenheit und Balance, was Dynamik und Phrasierung angeht. Als Beispiele seien die beiden großen Fugen (BWV 997 und BWV 998, jeweils zweiter Satz) zu nennen. Hier geht es darum, den Zuhörern das thematische Material in seinen zahllosen Abwandlungen und Verästelungen plastisch vorzuführen, an keiner Stelle den Faden zu verlieren und gleichzeitig das Ganze in seiner Komplexität darzustellen. Emanuele gelingt das ebenso wie das Tänzerische in Tanzsätzen und schließlich das Schnelle in PFA (BWV 998), das bei etlichen Kollegen eher zu einem „Präludium, Fuge und Adagio“ mutiert oder zu einem „Präludium und Fuge mit missglücktem Allegro“. Nein, hier geht Emanuele Segre kein Risiko ein, sein „Allegro“ steuert er eher gemächlich an, spielt es dann aber im Tempo durch, ohne bei jeder Schwierigkeit zwangsweise auf die Bremse treten zu müssen.

Was ich bei Segre höre, ist oft eine Art „Quasi-Staccato“, wie es auf dem Lautenklavier nicht anders möglich ist – allerdings auf der Gitarre mit deutlich mehr dynamischen Möglichkeiten. Das Lautenklavier war bekanntlich ein Tasteninstrument, bei dem die Darmsaiten mit Federkielen gezupft wurden. Erst das Pianoforte (oder Fortepiano), bei dem die Saiten angeschlagen wurden, konnte piano oder forte, leise oder laut spielen, ebenso Crescendi und Decrescendi – je nachdem, wie kräftig angeschlagen wurde. Wir kennen das vom modernen Klavier.

Die Edition enthält a. eine CD mit gut einer Stunde Musik und b. eine DVD mit dem gleichen Programm, live gefilmt (ohne Publikum), außerdem ein Interview mit Emanuele Segre (in italienischer Sprache mit englischen Untertiteln). Es geht in dem Gespräch um Gitarre und Gitarrenmusik im Allgemeinen und die Lautenmusik von Johann Sebastian Bach im Besonderen. Dabei werden keine neuen Erkenntnisse offenbart – wohl aber das Bild des sympathischen Interpreten, der seine Haltung zum Thema Johann Sebastian Bach erklärt, die geprägt ist von Respekt und Achtung. Ergebnis ist eine eher unitalienische Interpretation mit wenig fuoco e belcanto … dafür viel protestantischer Ernsthaftigkeit.
(Foto: Pressefoto Emanuele Segre, © by Emanuele Segre)