Giuliani pop

Roland Dyens Foto Beograd Beschnitt

Am 29. Oktober 2016 starb Roland Dyens völlig unerwartet in Paris. Er war einer der kreativsten Gitarristen seiner Generation – auf der ganzen Welt bekannt und geschätzt als Interpret und als Komponist. Ich drucke hier ein Interview noch einmal ab, das erstmalig in Gitarre & Laute-PRINT Ausgabe XVII/1995, Heft 2, S. 9–11 erschienen ist, um an ihn zu erinnern und meiner Trauer Ausdruck zu verleihen.

Tychy, 8. Oktober 1994: Wir, Roland Dyens und ich, sitzen in Rolands Hotelzimmer und unterhalten uns. Wenige Minuten vorher haben wir zusammen, ein paar Zimmer weiter, ein Gespräch mit Czeslaw Drozdziewicz geführt, dem Gründer und Organisator des Festivals in Kraków. Czeslaw hatte uns zu seinen Veranstaltungen nach Krynika und Kraków eingeladen. Knapp drei Monate später war er tot: Krebs. Ob sein Lebenswerk weiterleben wird, weiß bisher niemand.

Roland Dyens hatte am Abend zuvor im Theater in Tychy ein, zumindest für mich, bemerkenswertes Konzert gegeben. „Er improvisiert, schüttelt scheinbar aus dem Ärmel“ … habe ich in meinem Artikel über Tychy 1994 geschrieben (Gitarre & Laute XVII/1995, Heft 1, S. 22). Gut, die Frage, ob er wirklich improvisiert oder nur eine publikumswirksame Bühnenshow in Szene setzt, lassen wir vielleicht unbehandelt. Hier streiten sich die Geister, und was Dyens selbst dazu meint, können Sie jetzt lesen. Auf jeden Fall ist er ein Musiker, der sehr genau weiß, was er der Musik … und seinem Publikum schuldig ist. Ich bleibe dabei: Dieses Konzert hat mich sehr beeindruckt!'

(Foto: angefertigt in Belgrad am 20. Februar 2009, © 2009 by Peter Päffgen)

Die Ruhe zwischen den Tönen ist fast so wichtig, wie die Töne selbst … Peter Päffgen im Gespräch mit Roland Dyens

Peter Päffgen: Roland, ich habe gestern zum ersten Mal ein Konzert von dir gehört und es hat mir sehr gefallen. Warum? Es war „anders“. Erstens hast du fast ausschließlich deine eigenen Stücke gespielt, zweitens hattest du einen recht regen Kontakt mit dem Publikum … aber das war nicht alles. Was ist denn so „anders“?
Roland Dyens: Das frage ich mich auch, Peter. Ich fühle mich anders, aber ich will nicht anders oder besser sein, als die anderen. Das ist nicht mein Ziel… Aber es kamen immer wieder Leute zu mir, die sagten, ich sei anders und irgendwann habe ich angefangen, das zu glauben.
Nun spiele ich gern die Musik, die ich mag – und zwar ohne Fragen zu stellen. Ich liebe jede Art guter Musik! Vielleicht ist auch das der Grund, warum Leute mich für „nicht normal“ halten. Von einem anderen Planeten! Ich fühle mich aber ganz normal – vielleicht sind die anderen Leute unnormal!
Ich komponiere, ich improvisiere Musik, ich mache musikalische Witze … ich bin Musiker. Punkt. Schluss!
PP: Die meisten Leute haben dich durch ein Stück kennengelernt … durch deinen „Tango en skaï“. Mir ging es auch so. Dieses Stück wandert durch sämtliche Festivals, die ich besucht habe, und zwar immer als Zugabenstück. Es war das Zugabenstück!
RD: Ich weiß! Das Problem mit solchen Stücken ist, dass sie die anderen, die man geschrieben hat, überdecken und verstecken. Ich hoffe aber, dass die Leute neugierig werden und sich fragen, ob der Typ, der den „Tango en skaï“ geschrieben hat, nicht noch andere Sachen komponiert.
Aber der Tango war eigentlich ein kleiner Scherz. Ich habe ihn 1978 während einer Party geschrieben. Ich war betrunken und habe für die Leute einen Tango improvisiert. Dann habe ich das Stück in meinen frühen Konzerten gespielt und habe nicht dazu gesagt, dass er von mir war. Warum, weiß ich nicht! Vielleicht habe ich mich geschämt. Sieben Jahre später ist das kleine Stück dann auch bei Lemoine herausgekommen, nachdem mich Freunde dazu gedrängt hatten. Das ist die Geschichte.
Ich erzähl‘ dir noch eine kleine Geschichte, die mich sehr berührt hat. Meine Eltern waren in Nizza im letzten Juni und sie schlenderten über die Straße. Meine Mutter hörte etwas und sagte zu meinem Vater, sie höre „Tango en skaï“. Der hielt das nicht für möglich. Später sahen sie dann einen Gitarristen auf der Straße sitzen, der tatsächlich „Tango en skaï“ spielte. Der Musiker war Pole. Das ist eine hübsche Geschichte, finde ich. Meine Eltern sind dann zu dem jungen Mann gegangen und haben ihm erzählt, sie seien die Eltern des Komponisten des Stücks.
PP: Du sagtest eben, das Stück sei aus einer Improvisation entstanden, die du während einer Party gemacht hast. Ich hatte gestern den Eindruck, dass eine Menge deiner Stücke so entstanden sind.
RD: Ja, das stimmt. Ich improvisiere sehr gern. Für mich ist eine Komposition eine geglückte Improvisation.
PP: Wenn du nun deine eigenen Stücke im Konzert spielst, wie gestern zum Beispiel „Les Nuits“, spielst du dann immer das Gleiche oder improvisierst du weiter? Veränderst du das Stück noch?
RD: Manchmal! Manchmal füge ich etwas an, manchmal verändere ich etwas.Ich bin Improvisator, das ist meine Natur. Für mich ist Musik niemals fixiert und endgültig. Musik muss sich verändern können.
Manchmal fragen mich Interpreten, ob sie an einem Stück von mir etwas ändern könnten. Die Assad-Brüder zum Beispiel, die vor ein paar Tagen ein Stück von mir gespielt haben, haben gefragt, ob sie die Reihenfolge der Sätze verändern dürften. Natürlich! Wir haben uns das Stück angeschaut und ich habe keinen Grund gehabt, „nein“ zu sagen. Musik ist niemals fertig und endgültig. Musik ist etwas, das kommt und geht, es ist niemals statisch und identisch.
PP: Du hast nur wenig Musik gespielt gestern abend, die nicht von dir war. Da gab es die Variationen von Fernando Sor über „Marlborough s’en vat‘ en guerre“ und sonst nichts. Spielst du nicht viel Musik von anderen Komponisten, spielst du hauptsächlich eigene Stücke?
RD: Ja, das kann man so sagen. Im letzten Jahr ist in meinem Leben etwas sehr Dramatisches passiert. Mein Bruder ist mit 24 Jahren gestorben und ich habe dieses Stück „Nuits“ für ihn geschrieben. Ich sage das nie zum Publikum, aber es ist für ihn. Das ist ein sehr langes Stück, weil ich sehr involviert bin in dieses Thema.
Aber ich spiele Sor. Ich liebe diese Musik und das schon immer. Das ist für mich aber auch eine Gelegenheit, dem Publikum zu zeigen, dass meine Musik klassische Gitarrenmusik ist. Die Leute brauchen sich keine Gedanke zu machen. Ich bin ein „klassischer Gitarrist“!
In meinem Kopf fühle ich wie ein Jazz-Musiker. Ich liebe es, Stücke zu verändern, Dinge zu improvisieren. Ich bin nicht fixiert. Mit Sor will ich zeigen, dass ich ein klassischer Musiker bin. Ich liebe Sor, wie es die anderen tun, aber es gibt andere Dinge, die ich liebe.
PP: Ist das notwendig? Ich meine, muss man dem Publikum zeigen, dass man aus „klassischem Hause“ stammt?
RD: Franzosen lieben Kategorien. Man fragt: Was spielst du? Bist du Jazz-Musiker oder bist du ein „klassischer Musiker“? Spielst du südamerikanische Musik, dann gehörst du in diese Schublade. Aber ich möchte zeigen, dass ich die klassische Gitarre liebe und ihr verbunden bin.
PP: Die Situation ist in Deutschland nicht anders!
RD: Ja, so ist es. Ich habe meine Programme schon immer mit einer Improvisation angefangen, weil ich annehme, dass dies die beste Möglichkeit ist, Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen. Auch bekomme ich so für mich selbst am schnellsten mein eigenes Selbstbewusstsein.
Und schließlich greife ich damit eine uralte Tradition auf. Die Lautenisten haben auch ein präludierendes Stück gespielt, um selbst in die Musik hineinzukommen. Musiker haben immer improvisiert. Jetzt ist alles anders. Heute schreiben Komponisten Kadenzen für ihre Werke, und ist ein Zeichen, dafür, dass die Tradition total verloren ist. Kadenzen sind immer improvisiert worden, aber das kann heute niemand mehr. Komponisten und Interpreten sind geschiedene Laute, und das mag ich überhaupt nicht. Wenn ich Solokonzerte spiele für Gitarre und Orchester, improvisiere ich immer die Kadenzen. Immer! Ich nehme den einen oder anderen Teil aus dem Werk und improvisiere. So ist es immer gewesen. Heute hält man mich für anders, nur, weil ich das mache, was in der Musik immer Tradition gewesen ist. Es ist keine Ehre, anders zu sein. Ich mag das nicht!
PP: Warum schreibst du keine Programme für deine Konzerte?
RD: Ich könnte, aber ich liebe die Freiheit, andere Dinge zu tun. Ich finde auch die Idee nicht gut, an das Publikum heranzutreten und zu sagen: „Ich habe mein Programm geändert.“
PP: Außerdem bekommst du einen guten Kontakt zum Publikum, wenn du den Leuten erzählst, was du gerade zu spielen vorhast!
RD: Das stimmt auch! Das ist wichtig!
Aber ich erzähl‘ dir jetzt etwas sehr persönliches, privates. Vor zwölf Jahren war ich sehr krank. Am Herzen. Ich hatte eine sehr schlechte Zeit und immer die Nitro-Spray-Flasche in meiner Tasche. Das Improvisieren und die Art, mit dem Publikum zu reden, entspannten mich. Das war Stress-Bewältigung! An diese lockere Art habe ich mich gewöhnt, ich bin dabeigeblieben.
Ich glaube übrigens, dass es überhaupt nichts verdirbt, wenn man mit dem Publikum spricht. Wenn ich zum Beispiel erzähle, dass Villa-Lobos fünf Präludien geschrieben hat, dann weiß das sicherlich nicht jeder im Publikum. Ich halte ja keine langen Vorträge, nur ein paar Wörter. Wenn ich jetzt ein schlechter Musiker wäre, würde das Publikum sicher annehmen, ich wollte mich hinter meinen Wörtern verbergen. Aber ich mag einfach den Kontakt zum Publikum.
PP: Ich gehe gern in Restaurants und frage den Chef, was ich essen soll, anstatt in die Speisenkarte zu schauen. Dabei kann einem zweierlei passieren: Entweder bekommt man die wirklich frischen Angebote, das, was am besten ist … oder man bekommt die Ladenhüter, das, was wegmuss.
RD: Nun, ich fände es gar nicht schlecht, wenn einem das Publikum erzählte, was man spielen soll. Fünf Minuten vor dem Konzert. Oder auf der Bühne.
Ich habe immer mehrere Programme fertig, bevor ich in ein Konzert gehe. Dann kann ich aussuchen und das spielen, was gerade zu meiner Stimmung passt.
PP: Wie viele Konzerte gibst du pro Jahr?
RD: Ungefähr fünfzig. Das ist viel.
PP: Und zwischen den Konzerten komponierst du deine Stücke?
RD: Nun, das sind zwei grundverschiedene Tätigkeiten. Wenn ich komponiere, bin ich kein Gitarrist mehr. Ich schreibe auch ohne Gitarre. Ich muss die Musik aufgeschrieben haben, das gibt mir mehr Freiheit.
Meine Musik ist übrigens von Zeit zu Zeit sehr schwierig zu spielen, und das kommt daher, dass ich ohne Gitarre in der Hand komponiere. Wenn ich alles mit der Gitarre aufschriebe, kämen Reflexe dabei heraus, spieltechnische Klischees und Schemata.
PP: Du hast ja auch für andere Instrumente geschrieben, zum Beispiel ein Konzert für Gitarre und Orchester …
RD: Ja, das schreibt man natürlich noch anders. Dieses Konzert ist in Cannes uraufgeführt worden und dann vom Orchester der Menuhin-Stiftung ausschließlich mit Musikern aus osteuropäischen Ländern. Das war die beste Version.
PP: Das Schicksal solcher Konzerte ist ja oft, dass sie mit großem Aufwand uraufgeführt werden … und dann nie wieder. Sie sind als Auftragswerk geschrieben und bezahlt worden, und das war’s dann.
RD: Leider hast du recht. Der Aufwand, ein solches Werk zu schreiben, ist immens … und dann verschwindet es in einer Schublade. Aber ich kämpfe für das Konzert und habe es ja auch schon mehrmals aufgeführt. Ich möchte es bekannter machen.
Andere Stücke werden ja gespielt. Du hast selbst in der Jury von Wettbewerben gesessen und gehört, dass verschiedene Gitarristen Stücke von mir gespielt haben …
PP:und nicht nur den Tango!
RD: Ja, darüber bin ich glücklich!
PP: Die Stücke, die du geschrieben hast, leben weniger von ihrer Struktur, als von ihrem klanglichen Reiz. Da zeigst du dich als Gitarrist
RD: … natürlich! Ich bin Gitarrist! Ich habe natürlich Komposition und all das gelernt, aber ich komme von der Gitarre.
PP: Unterrichtest du?
RD: Ein wenig, in Paris, aber nicht offiziell. Ich gehöre nicht zur Szene. Ich hätte auch gar nicht die Zeit, jede Woche zu unterrichten. Ich möchte nicht Stunden geben und dann schlechtere Stücke schreiben. Ich unterrichte zwei Tage lang alle zwei Wochen und habe dann auch eine Menge Schüler. An keiner Akademie oder an einem Konservatorium … bei mir zu Hause.
PP: Hier in Tychy hast du einen Meisterkurs gegeben. Haben die Studenten eigentlich hauptsächlich deine Stücke vorgespielt?
RD: Nein, nur einer. Ich kann zwar verstehen, wenn Teilnehmer das immer wieder machen, weil es ist halt gut, wenn man den Komponisten fragen kann, wie man bestimmte Dinge spielen soll. Ich mag es aber eigentlich nicht sehr. Ich unterrichte gern alle Arten von Musik.
Obwohl, ich finde manchmal erstaunlich, wie gut und wie „anders“ Musiker meine Stücke spielen. Das fasziniert mich. Andere spielen genauso, wie sie es von mir gehört haben. Das finde ich dann eher langweilig. Aber die Musik, die ich geschrieben habe, gehört mir nicht mehr. Sie gehört der Öffentlichkeit, den Kollegen und Musikern.
PP: Zu der Generation Gitarristen, die immer lauter und immer schneller spielen wollen, gehörst du ja ganz offenbar nicht
RD: Das ist ein alter Komplex der Gitarristen. Sie wollen das Klavier nachahmen. Die Kraft und die Macht der Gitarre ist ihre Intimität. Spiele niemals wie andere Instrumente und frag einen Gitarrenbauer nicht, dir ein möglichst lautes Instrument zu bauen. Das ist Unsinn.
PP: Gestern, in deinem Konzert, war die Gitarre verstärkt.
RD: Ja, das ist in Ordnung. Ich reise auch oft mit meinem eigenen Verstärker-System. Das laute Spielen aber, das ohne Verstärker versucht wird, die Hatz nach Laustärke und Schnelligkeit, sie bringt ein aggressives Spiel mit sich. Die Ruhe zwischen den Tönen ist so wichtig – das habe ich selbst erst vor kurzem gelernt. Um das zu erleben, muss man älter werden. Die Ruhe zwischen den Tönen ist fast so wichtig, wie die Töne selbst. Dann kann die Gitarre ein magisches Instrument sein. Mein Lehrer hat mir darüber eine Menge erzählt … Alberto Ponce. Er ist ein sehr sensibler Mensch.
PP: Hörst du gerne Kollegen zu? Ich meine, hörst du gerne Gitarrenmusik?
RD: Nicht wirklich! Wenn es Musiker sind wie Sergio und Odair Assad, dann ja! Aber sonst? Die Gitarre ist ein sehr schwieriges Instrument und man braucht ein ganzes Leben, die technischen Probleme zu lösen. Für die Musik bleibt für viele Gitarristen keine Zeit.
Es darf eigentlich keine Rolle spielen, auf welchem Instrument man Musik dargeboten bekommt … die Musik ist wichtig. Ein Gitarrist darf nicht sagen, diese oder jene Note wird nicht abgedämpft, weil es halt eine leere Saite und das auf der Gitarre schwierig ist. Nein, Gitarristen sind nicht ausreichend ausgebildet, was Harmonie und Kontrapunkt angeht. Wenn man manchmal auf einem Festival all die Kollegen spielen hört, behält man nur wenige Ereignisse im Gedächtnis. „Im Westen nichts Neues!“
PP: Und woran liegt das alles?
RD: Ich denke, dass der Aufwand, erst einmal ein guter Gitarrist zu werden, so groß ist, dass die Leute keine Zeit mehr haben, auch noch ein Musiker zu werden.
Nimm jemanden, der aufgrund einer Empfehlung in ein Gitarren-Recital geht. In den meisten Fällen geht er einmal und nicht wieder. Warum? Meistens ist es entsetzlich langweilig, es ist sehr schwierig, der Musik zu folgen, neunzig Prozent der Instrumente sind nicht richtig gestimmt … das ist nicht sehr erfreulich. Die Spezialisten, die über die Probleme informiert sind, die Kollegen also, die gehen in Gitarren-Recitals. Das ist eine sehr traurige Situation.
PP: Roland, vielen Dank für das Gespräch!