Stefan Koim: À l’Espagnol
Werke von Bach, Sor, de Falla, Rodrigo und Murail
Aufgenommen im Juli 2013, erschienen 2014
Gitarre: Stephan Connor 2010
musicaphon M56963, im Vertrieb von Klassik Center Kassel
… eine mehr als bemerkenswerte Debüt-CD …
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Das Programm dieser Debüt-CD von Stefan Koim besteht aus Klassikern des Repertoires und es beginnt gleich mit einem Schwergewicht, der Chaconne nämlich … von Johann Sebastian Bach; eigentlich für Violine, aber auch auf anderen Instrumenten zuhause; oft dilettiert aber nur gelegentlich zelebriert; eine Ahnung von dem gebend, was Daniel Hope meinte, als er sagte: „Für mich gibt es Barockmusik – und es gibt Bach!“ Vermutlich hat er dabei ein x-beliebiges der zahlreichen Werke Bachs angesprochen, vielleicht aber auch die Chaconne, schließlich ist er Geiger! Sein Lehrer, Yehudi Menuhin, hat 1946, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, im zerstörten Berlin das Beethoven-Violinkonzert, ein Jahr später die Chaconne gespielt und zwar als Zeichen des Friedens und des Vergebens. Damit hat er nicht nur um Verständigung nach Weltkrieg und Shoa geworben, er hat den Deutschen auch gezeigt, dass es unter den Überlebenden des Völkermords jüdische Mitbürger gab, die das kulturelle Erbe und die kulturelle Leistung der Deutschen würdigten … und sogar liebten. Menuhin hat die Chaconne spätestens in diesem Moment zu einem Stück Welterbe gemacht, zu einem ehernen Denkmal.
Aber: An dem Denkmal war schon vor dem Krieg gewerkelt worden. Johannes Brahms (1833–1897) hatte eine Bearbeitung für Klavier nur für die linke Hand geschrieben, Ferruccio Busoni (1866–1924) eine für beide; Leopold Stokowski (1882–1977) hat das Stück später orchestriert wie verschiedene Kollegen auch. Dass irgendwann Gitarristen die Chaconne für ihr Instrument entdecken würden, war voraussehbar … und so geschah es dann auch. Am 4. Juni 1935 spielte Andrés Segovia seine Transkription zum ersten Mal öffentlich in Paris, ein Jahr später erschien seine Ausgabe bei Schott. Ab sofort gehörte die Chaconne weltweit zur Gitarrenmusik … allerdings spielte „man“ nicht nur die Noten in Segovias Ausgabe, „man“ imitierte auch dessen sehr persönliche Interpretation.
Stefan Koim – notabene! – gehört nicht zu Segovias Epigonen. Seine Chaconne steht weder dem Jahrhundertgitarristen noch Sigiswald Kuijken oder einem anderen Barockgeiger nah, sie hat ein eigenes Gesicht und das hört man bei Debütanten selten. Koim spielt die 256 Takte der Chaconne metrisch kontrolliert – und schon das unterscheidet ihn vom großen Segovia. Er ist auch weit entfernt von dessen aufgeblähter Theatralik und Dramatik … von den ernsthaften Manipulationen des Notentextes ganz zu schweigen! Die meisten Transkriptionen der Chaconne, die seit Segovia herausgekommen sind, enthalten redundante harmonische Füllsel, die das Werk noch komplexer und streckenweise fast unspielbar gemacht haben. Koim hat auf solche Anreicherungen verzichtet … und ein klar strukturiertes Werk in den Vordergrund gestellt.
Im Programm folgt die Fantaisie op. 30 von Fernando Sor als (sehr) klassischer Kontrast. Der berühmte Trauergesang auf den Tod von Claude Debussy (1862–1918) danach ist die einzige Gitarrenkomposition von Manuel de Falla (1876–1946), geschrieben für die „Numéro spécial consacré à Debussy“ (I/1920, Nº 2) der Zeitschrift „La Revue Musicale“, herausgegeben von Henry Prunière. Neben de Falla haben auch Paul Dukas, Maurice Ravel, Albert Roussel, Erik Satie, Florent Schmitt, Béla Bartók, Eugène Goosens, Gian Francesco Malipiero und Igor Strawinsky für diese Ausgabe komponiert – dies nur, um die Bedeutung dieser Zeitschriftenausgabe herauszustreichen!
De Fallas „Homenaje à Debussy“ ist ein Stück von gerade einmal drei Minuten Dauer, das seit seiner Entstehung im Jahr 1920 unzählige sehr unterschiedliche Interpretationen erfahren hat. Viele davon waren enttäuschend, andere unverständlich bis schlecht. Dass sich insgesamt die Rezeptionsgeschichte des Stücks als so wechselhaft darstellt, liegt daran, dass der immanente Habanera-Rhythmus des Stücks buchstäblich jahrzehntelang von Interpreten, auch von Berühmtheiten und von Professores, nicht erkannt oder schlichtweg ignoriert worden ist. Dabei entschlüsselt sich das Stück rasch, wenn man ihn einmal erkannt hat und würdigt. Stefan Koim tut das auf sehr elegante Art. Das Mystische an dem Stück überspielt er zwar hie und dort etwas übereifrig … wird aber der kolossalen Miniatur mehr als gerecht!
Dann eines der großen Gitarrenstücke des letzten Jahrhunderts: „Invocation et Danse“ von Joaquín Rodrigo. Mit diesem Stück hat der Komponist 1961 den ORTF-Kompositionswettbewerb in Paris gewonnen. Das Stück, eine Hommage an Manuel de Falla, ist 1962 von Alírio Diaz uraufgeführt worden.
„Invocation et Danse“ verlangt einen sehr sensiblen Umgang mit dynamischen Dimensionen. Da schichten sich zarte Klanggewebe übereinander, leise, duftig um dann … plötzlich … durch einen heiteren Tanz durchbrochen zu werden. Die Anforderung an den Interpreten ist, in der Invocation den klanglichen Schwebezustand zu halten – mystisch, geheimnisvoll wie ein Nebel, um dann in einem magischen Moment einen Tanz zuzulassen und in ihm fast in Ekstase zu verfallen. In dem Tanz hat Rodrigo aber nicht irgendeine volkstümliche Melodie ins Spiel gebracht, mit ihm hat er seinem Lehrer de Falla durch Zitieren seine Reverenz erwiesen.
„Invocation et Danse“ ist ein elektrisierendes Stück Musik, dessen Vielschichtigkeit Stefan Koim sehr plastisch herausstellt … mit deutlicheren Querverweisen, als es viele seiner Kollegen tun.
Und schließlich „Tellur“ von Tristan Murail (*1947). Dieses Stück gehört einer anderen Kategorie an, als die bisher gehörten. Es ist nicht nur das neueste Stück des Programms, es ist auch das „modernste“, das am wenigsten tonal und überhaupt musikalisch gebundene.
Der Titel „Tellur“ ist der Name eines chemischen Elements, „das in zwei Modifikationen, nämlich im Normalfall als metallisch, silberweiß glänzende kristalline Form sowie als braunschwarz, amorphes Pulver vorkommt.“ (Stefan Koim, Booklet) Bei genauerer Betrachtung findet man heraus, dass das Elementsymbol von Tellur „Te“ ist, dass es die Ordnungszahl „52“ hat und dass der Name vom lateinischen „tellus“ kommt, was Erde und auch „Gottheit der Erde“ bedeutet.
Wem und besonders welchem Komponisten fielen nicht bei diesen Vorgaben musikalische Darstellungen ein oder, sagen wir, Konflikte, die nur in der abstraktesten aller Künste, der Musik, abzubilden sind? Oder: Ist nicht jedes Stück Musik „Tellur“, der interne, unausgesprochene Disput zwischen Elementen?
Das Stück von Murail ist fast eine Battaglia, ein Schlachtengemälde, wie Clément Janequin oder Heinrich Ignaz Franz von Biber sie schon geschrieben haben. Oder Tschaikowski? Aber vielleicht ist, nach Carl von Clausewitz, ohnehin die Musik eine bloße Fortsetzung von Konflikten mit anderen Mitteln.
Stefan Koim hat eine mehr als bemerkenswerte Debüt-CD vorgelegt: spannendes Programm, überzeugende Darstellung und, interessante Einblicke!