Giuliani pop

Cantigas Laute und Rabab
Cantigas de Santa Maria

Hana Blažiková
Barbora Kabátková, Margit Übellacker, Martin Novák
Aufgenommen im Mai 2014, erschienen 2015
outhere LPH017, im Vertrieb von Note-1
… lebendige Musik und kein Museum …

 

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Gitarristen, Lautenisten und überhaupt Musiker und Musikhistoriker kennen die „Cantigas de Santa Maria“ wegen der in einer der Handschriften enthaltenen Miniaturen, die verschiedene mittelalterliche Musikinstrumente darstellen. Die 419 „Cantigas de Santa Maria“ (Lieder auf die Heilige Maria) sind in galicisch-portugiesischer Sprache in vier Handschriften überliefert. Entstanden sind sie zwischen 1264 und 1284 auf Anregung von König Alfons X. (El Sabio/Der Weise) von Leon und Kastilien (1221–1284), der außerdem einige der Lieder selbst komponiert haben soll. Es handelt sich um die zweitgrößte Sammlung mittelalterlicher Lieder mit Notation.

bob006smallDie einstimmigen Lieder sind in unterschiedlichen Ausprägungen der für das dreizehnte Jahrhundert neuen Mensuralnotation überliefert, die erlaubte, unterschiedliche Tonlängen zu notieren (daher der Name „Mensural“-Notation), was uns heute Einblick in die rhythmische Gestaltung der Lieder ermöglicht. Weitere aufführungspraktische Aufzeichnungen fehlen allerdings. Entsprechende Hinweise finden sich in Bilddokumenten (Instrumentarium, Besetzung der Gesangsstimmen etc.), außerdem erlauben Anweisungen  anderer europäischer Musiktheoretiker Rückschlüsse. Die Musica gehörte neben Grammatik, Rhetorik und Dialektik (dem Trivium) und Arithmetik, Geometrie und Astronomie zum Quadrivium der „Septem Artes Leberales“, der Sieben Freien Künste, die an Lateinschulen und später an den Universitäten unterrichtet wurden. Die Schriften der Philosophen und Musiktheoretiker sind handschriftlich überliefert, die Druckerkunst war noch nicht erfunden.

Der Süden Spaniens (Andalusien oder „El Andalus“) stand seit dem 8. Jahrhundert unter Maurischer Herrschaft und natürlich waren auch das dort verwendete Instrumentarium und die Musikausübung von den hoch kultivierten arabischen Besetzern beeinflusst. Einige Instrumente, darunter die Vorformen unserer Laute und auch der Gitarre, waren von den Mauren mitgebracht worden. In den Miniaturen in einer der überlieferten Handschriften der Cantigas, dem „códice de los músicos“ im Escorial, sind einige davon abgebildet (s. Abbildung oben: Zwei Musiker, einer mit Rabāb, einer mit Laute)

Das Ensemble um Hana Blažiková verwendet ausschließlich gezupfte Saiteninstrumente (verschiedene Harfen, Psalterium, Dulce Melos) und verschiedene Schlaginstrumente. Ein Streichinstrument ist in den „Cantigas-Miniaturen“ dargestellt, der Rabāb. Auch ihn haben die Mauren mitgebracht – er wird hier, in der CD-Aufnahme, nicht verwendet … auch keine Blasinstrumente, die allerdings eher einer anderen musikalischen Sphäre angehörten. Hana Blažiková und Barbora Kabátková (beide Sopran) sind die Sängerinnen des Ensembles.

Hauptsächlich sind es Marienanbetungen, die in den Cantigas gesungen werden, aufgelockert durch vier instrumentale Interludien. Es finden sich allerdings auch Texte, deren Inhalte höchst weltlichen Charakter haben:

[Die Jungfrau Maria sollen wir lieben
sondergleichen und beten,
dass sie uns ihre Gnade zuteil werden lasse,
damit der schamlose Teufel
uns nicht in die Irre
und in die Sünde führe
.]

Cantigas de Santa Maria CDDazu will ich berichten
von einem Wunder, von dem ich hörte,
das die Mutter des Großen Königs
an einer Äbtissin vollbrachte, da sie, wie man mir sagte,
ihr sehr ergeben war.
Doch der Teufel umgarnte sie,
und so wurde sie schwanger
von einem Mann aus Bologna
der mit der Führung
ihrer Bücher und Geschäfte
betraut war.
usw. usw.

Das Ensemble von Hana Blažiková singt und spielt mit der gebotenen Zurückhaltung – eigene Ideen sind nur in die instrumentalen Begleitungen eingeflossen … und die sind ohnehin hinzuimprovisiert oder -komponiert worden. Ob die in den Handschriften enthaltenen Miniaturen, auf denen Musiker mit Instrumenten dargestellt sind, als direkte Hinweise darauf zu werten sind, wie die Cantigas zu ihrer Entstehungszeit instrumental begleitet worden sind – wie in der Musikwissenschaft gelegentlich zu lesen – ist umstritten … aber naheliegend, weil keine weiteren Hinweise bekannt sind. Und warum hätten die Miniaturenmaler ausgerechnet Bilder von Laute, Rabāb und Guitarra in diese „königlichen“ Handschriften malen sollen, wenn diese Instrumente keinen Bezug zum Hauptinhalt der Manuskripte hatten, den „Cantigas de Santa Maria“?

Es ist weitgehend hypothetisch, wie die Cantigas vor rund 750 Jahren gesungen oder aufgeführt worden sind … und es wird auch zu einem gewissen Maß hypothetisch und damit vom jeweiligen Zeitgeschmack abhängig bleiben. Die Aufnahme von Hana Blažiková und ihrem Ensemble jedenfalls fällt weder dadurch auf, dass sie überromantisch ausgepolstert wäre, noch durch risikoloses, schwedisches Design. Sie strotzt nicht von mutigen, kreativen Ideen oder gar übertriebener Detailversessenheit eines Vordenkers der historischen Aufführungspraxis – sie ist einfach[,] gut, gesanglich weitgehend betörend schön, instrumental (auch gezwungenermaßen) risikobereiter als vonseiten der Sängerinnen … lebendige Musik und kein Museum. Und das bei einem Alter von rund siebenhundertfünfzig Jahren!