Luigi Attademo: 19th Century Guitar Music
Werke von Giuliani, Legnani, Sor, Coste, Giuseppe Agnelli, Aguado
Aufgenommen im Februar und März 2016
Gitarren: Gaetano Guadagnini, Gennaro Fabricatore, Johann Anton Stauffer, René Lacôte, Etienne Laprevotte und eine guitare eptacorde von René Lacôte
BRILLIANT Classics 95024
… Potpourri aus Bravourstücken des neunzehnten Jahrhunderts, bravourös vorgetragen, mehr nicht! …
♦♦
Gleich sechs Gitarren führt Luigi Attademo auf seiner neuen CD vor, allesamt von namhaften Gitarrenbauern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie klingen nicht alle gleich gut, diese Gitarren, und haben gemein, dass sie nicht so obertonreich sind, wie moderne Instrumente und leiser, und dass sie klanglich weniger präsent und strahlkräftig wirken. Dafür ist ihre Verwendung insofern authentischer, als auf den kleiner mensurierten Instrumenten der Zeit mit der Spieltechnik gespielt werden kann, die auch von Giuliani, Sor oder Legnani benutzt worden ist. Und dass ein Verändern von Spieltechniken auch musikalische Interpretationen in ihrer Substanz verändert, will ich hier nicht noch erklären müssen … und doch: Man nehme als Beispiel den Übergang vom Fingerkuppen- zum Fingernagelanschlag. Als Musiker anfingen, Gitarrensaiten mit den Spitzen der vergleichsweise harten Fingernägel anzuschlagen und nicht mehr mit den flächigen, weichen Fingerkuppen, hat sich der Klang der Gitarre wesentlich verändert. Er wurde punktueller, präziser definiert, härter, geräuschärmer und auf diese Art weitergehend modulationsfähig.
Foto: Napoléon Coste, Foto ca. 1865 (Archiv Gitarre & Laute, Köln)
Dem Klang der hier vorliegenden CD von Attademo ist, das muss ich vielleicht anmerken, aufnahmetechnisch nicht auf die Sprünge geholfen worden, was bei historischen Instrumenten oft gemacht wird. Da werden dynamische Gefälle oft elektronisch ausgeglichen und Nebengeräusche wegretuschiert. Aber hier war der Klang der unterschiedlichen Instrumente besonders wichtig, zumal der Interpret jeweils solche Gitarren verwendet hat, die von den Komponisten der CD besonders geschätzt worden sind. Von Fernando Sor zum Beispiel hören wir die „Mozart-Variationen“ op. 9 und die „Sixième Fantaisie“ op. 21 – beides gespielt auf einer Gitarre von René Lacôte, den Sor sehr geschätzt und in seiner Gitarrenschule von 1830 erwähnt hat. Für die „Sonatina“ des weitgehend unbekannten Komponisten Giuseppe Anelli hat der Interpret die Gitarre eines Gaetano Guadagnini II verwendet, der – wie Anelli – aus der Gegend von Turin stammte und ein Nachfahre des berühmten Giovanni Battista Guadagnini (1711–1786) war, der hauptsächlich als Geigenbauer zu Berühmtheit gelangt ist. Die jüngste der verwendeten historischen Gitarren und gleichzeitig die „modernste“ ist für das Stück „Le Tournoi – Fantasie chevaleresque“ von Napoléon Coste verwendet worden. Es ist eine „guitare eptachorde“, eine siebensaitige Gitarre also – auch aus der Werkstatt von René Lacôte. Lacôte gehörte zu den Instrumentenmachern, die versuchten, den damals vielbeklagten Nachteilen der Gitarre, der zu geringen Lautstärke, Klangfarben- und harmonischen Vielfalt nämlich, durch eine Vergrößerung der Saitenzahl seiner Instrumente entgegenzuwirken. So baute er Gitarren bis hin zum Dekachord mit zehn Saiten. Napoléon Coste spielte einen Heptachord und schrieb auch Stücke für diese erweiterte Gitarre, für deren „Erfindung“ er, heißt es, sogar verantwortlich sein soll. Lacôtes Heptachord soll auf einen Vorschlag von Napoléon Coste zurückgehen, heißt es … außerdem zeigt ein berühmtes Foto Napoléon Coste im Kreise etlicher mehrsaitiger Gitarren, darunter auch ein Heptachord.
Luigi Attademo präsentiert sich also auf seiner CD als Instrumentensammler (auch, wenn nicht alle Instrumente, die er auf der CD gespielt hat, aus seiner Sammlung stammen) und natürlich als ein der Geschichte und der historischen Aufführungspraxis verpflichteter Musiker … jedenfalls nimmt man das an, denn sonst machte der Einsatz so vieler unterschiedlicher Gitarren keinen Sinn und verblasste zu nichts anderem, als zu überflüssiger Kostümierung. Ob das, was Luigi da spielt, allerdings nach allen Regeln der Kunst des frühen 19. Jahrhunderts geschieht, weiß ich nicht. Er nimmt das, was er da liest, ernst. Zu ernst manchmal, wenn da ein Stück zum Beispiel mit „Prestissimo“ überschrieben ist. Wir lesen in der Presse des frühen 19. Jahrhunderts zwar, dass man das virtuose Spiel von Mauro Giuliani bewundert hat … aber ob er und seine Zeitgenossen wirklich so schnell gespielt haben, wie es Attademo tut und ob ihr Saitenmaterial das überhaupt erlaubt hätte, ist fraglich. Und auch: In den Zeitungskritiken der Zeit ist oft von Virtuosität die Rede – aber auch von „Anmuth“ oder von „Vollendung in Hinsicht auf Fertigkeit und Geschmack“. Das Capriccio op. 20 Nº 7 von Luigi Legnani lässt mich bei Attademo allerdings eher an einen Rekordversuch denken, auch das „Allegro“ Nº 15. Da höre ich überdrehte, jugendlich naïve Tempoprahlerei!
Wenn es um weite, majestätische Passagen geht wie zum Beispiel in Sors „Fantaisie“ op. 21 hört man die Grenzen der verwendeten Lacôte-Gitarre aber auch die von Attademo. Richtiges Legato gelingt ihm gelegentlich gut, an anderen Stellen scheint es ihm nicht wichtig genug zu sein. Schade, da könnte man dem Detail mehr Sorgfalt gönnen.
Aber natürlich ist die CD mit „19th Century Guitar Music“ durchaus unterhaltend … mehr aber nicht! Luigi Attademo hat keine neuen Maßstäbe erforscht oder gar gesetzt, keine Referenzaufnahme vorgelegt, an der sich die Jungspunde der Gitarre die nächsten hundert Jahre messen müssten. Wir hören ein Potpourri aus Bravourstücken des neunzehnten Jahrhunderts, bravourös vorgetragen, mehr nicht!