Giuliani pop

Sylvius Leopold Weiss Zu Silvius Leopold Weiss’ Lebzeiten (1686—1750) hatte die Laute es zunehmend schwerer, sich im Musikleben zu behaupten. Der scharfzüngige Johann Mattheson (1681—1764) veröffentlichte 1713 seine vielzitierten Attacken gegen das Instrument: „Die schmeichlenden [sic] Lauten haben würcklich in der Welt mehr Partisans als sie meritiren …“ und gegen die Musiker, die sich seiner bedienten: „und ihre Professores sind so unglücklich / dass wenn sie nur nach der Wienerischen Art / oder nach der Parisischen Mannier ein paar Allemanden daher kratzen können / sie nach der reellen Musicalischen Wissenschaft nicht ein Härchen fragen / sondern sich mit ihrer Pauvreté recht viel wissen. Etliche haben wol gar die Suffisance und geben sich vor Compositeurs aus / da sie doch wahrhafftig nicht gelernt haben / was Con- und Dissonanz sey.“ [Das Neu=Eröffnete Orchestre, Hamburg 1713, S. 274—275] Mattheson forderte mit seinen Angriffen den jungen Candidatus Juris Ernst Gottlieb Baron (1696—1760) heraus, der das Instrument verteidigte. Seine Schrift „Historisch=Theoretisch und Practische Untersuchung des Instruments der Lauten“ (Nürnberg 1727) ist eine einzige Apologie, die allerdings keinen anhaltenden Erfolg zeitigen sollte. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war eine Zeit ständig nachlassenden Interesses an der Laute und 1802 stand in Heinrich Christoph Kochs „Musikalischem Lexikon“: „Laute, ital. Liuto. Dieses ehedem so beliebte Instrument, welches für das angenehmste unter den Saiteninstrumenten gehalten wurde, scheint seit geraumer Zeit in Vergessenheit zu sinken.“ [Berlin 1802, Sp. 891]

Das erlahmende Interesse an Laute und Lautenspiel änderte nichts an der breiten Akzeptanz, die dem Schaffen von Silvius Leopold Weiss entgegengebracht wurde. Sogar Mattheson kam nicht umhin anzuerkennen, dass er (Weiss) ein „perfecter Musicus“ (S. 276) war, wand aber sofort ein: „Nichts desto weniger aber wird man solche Virtù nicht so wol dem an sich mangelhafften Instrument, als dem grossen Fleiß / dem Jugement und der Fertigkeit derjenigen Personen zuschreiben müssen / die so was extraordinaires darauff hervorbringen. Denn wäre das Instrument vollenkommen / welch Wunder / daß man vollenkommene Sachen darauf spielte?“ (S. 276—277) Der erste Bach-Biograph Johann Nikolaus Forkel (1749—1818) meinte sogar, einige der Werke von Weiss seien „in dem ächten und körnichten Geschmack geschrieben […], wie ungefehr die Clavier-Arbeiten des sel. Joh. Seb. Bach.“ [Musikalischer Almanach […] auf das Jahr 1782, S. 111] Und doch: Mit Silvius Leopold Weiss und einigen Zeitgenossen geriet die hohe Kunst des Lautenspiels in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts langsam in Vergessenheit. Als Gebildete und Musikinteressierte gegen Mitte des nächsten Jahrhunderts begannen, sich für ältere Musik zu interessieren, wurde die Idee geboren, musikalische Quellen, die zur Verfügung standen, in Gesamtausgaben und sog. Denkmälerausgaben zu sichern. Gleichzeitig und natürlich in gegenseitiger Abhängigkeit wurde auf dem Gebiet der musikwissenschaftlichen Quellenforschung gearbeitet. Robert Eitners (1832—1905) epochales Quellen-Lexikon erschien in Leipzig zwischen 1900 und 1904: „Keine Kunst und Wissenschaft bedarf der Bibliographie so unbedingt als die Musikgeschichte, denn die alten Kunstwerke wurden im 17. und 18. bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts in der unvernünftigsten Weise vernichtet, …“ [Robert Eitner, Biographisch-Bibliographisches Quellen-Lexikon der Musik, Leipzig 1900—1904, Bd. 1, S. 5]. Es entstanden Gesamtausgaben der Werke von Johann Sebastian Bach (1858 ff.), Wolfgang Amadeus Mozart (1878 ff.), Robert Schumann (1883 ff.) und anderen Komponisten; im „Erbe Deutscher Musik“, einer Denkmäler-Reihe, dessen Edition 1935 begonnen wurde, erschienen Werke weniger bekannter Komponisten und auch Quelleneditionen (beispielsweise „Das Glogauer Liederbuch“ EdM Bd. 4, Kassel 1936). Ziel der frühen Kritischen Ausgaben musikalischer Quellen war „die Etablierung eines möglichst authentischen Werktextes auf der Basis aller erreichbaren Quellen, die allerdings einer wissenschaftlich fundierten Kritik zu unterziehen sind.“ [Dietrich Berke, Art. „Denkmäler und Gesamtausgaben“, in: MGG2, Sachteil, Bd. II, Sp. 1109] Eine praktische Verwendbarkeit der Ausgaben war zunächst nicht angestrebt. Sie war praktischen Ausgaben vorbehalten, die auf der Basis der Kritischen Editionen entstehen sollten und entstanden. Die Zielsetzung bei der Herausgabe von Gesamt- und Denkmäler-Ausgaben änderte sich später aber grundlegend: „Neu gegenüber den Kritischen Ausgaben des 19. Jh. ist der Anspruch, dass die modernen wissenschaftlich-kritischen Editionen höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden und gleichzeitig für die musikalische Praxis unmittelbar verwendet werden können.“ [ebda. Sp. 1110] Was Lautenmusik angeht, mussten vor dem Erscheinen größer angelegter Ausgaben einige grundsätzliche editorische Fragen geklärt werden. Tabulaturen waren nämlich bis zur Zeit des Niedergangs der Laute die allgemein verständliche und benutzte Notationsform für Lautenmusik. Im 18. Jahrhundert hat es zwar Versuche gegeben, für Lauten- und Gitarrenmusik eine Notation „en musique“ durchzusetzen, diese Reformbestrebungen blieben aber ohne Erfolg. Gut einhundert Jahre später galten Tabulaturen als „seltsame und verwickelte Geheimschriften“ [François-August Gevaert (1828—1902) im Vorwort zu der Ausgabe „Les Luthistes espagnols du XVIe Siècle“ von Guillermo Morphy (1836—1899), Leipzig 1902]. Für Wissenschaftler waren und sind in Tabulatur aufgeschriebene Lautenwerke nicht unmittelbar verständlich, weil zur Tabulatur grundsätzlich das Ausgeführtwerden gehört – und zwar das Ausgeführtwerden auf dem Instrument und in der Stimmung, für die die Musik geschrieben ist. Tabulaturen bezeichnen nicht den Ton, der erklingen soll, sondern die Griffstelle, den Bund auf dem Griffbrett des jeweiligen Instruments, wo er erzeugt wird. Für Lautenisten ist die Tabulatur eine ideale Notation, auch, weil sie von Skordaturen unabhängig ist. Und so hat sich bei Lautenisten im 20. Jahrhundert das Spiel nach Tabulaturen wieder weitgehend durchgesetzt … bzw., um genau zu sein, das Spiel nach der französischen Tabulatur. Die deutsche Schreibweise, die bekanntlich schon kurz nach 1500, als die ersten gedruckten Tabulaturen herauskamen, nicht nur kritisiert, sondern auch karikiert wurde, ist schon Mitte des 16. Jahrhunderts kaum noch verwendet worden. Die italienische Tabulatur war ähnlich kurz-, die Neapolitanische, die in gedruckter Form nur in zwei Büchern vorkommt, noch kürzerlebig. Sie hat Julius Giesbert allerdings versucht, als „moderne Tabulatur“ zu etablieren, wie auch Leo Schrade berichtet: „Mehr um die praktischen Notationsprobleme handelt es sich bei den Veröffentlichungen des Bonner Tabulaturverlags (Julius Giesbert). Wir wollen hier nicht im einzelnen zu diesen Neuerungen Stellung nehmen. Soviel ist jedenfalls zu sagen, dass […] der Bonner Tabulaturverlag sich bemüht, eine neue Griffschrift einzuführen (d.h. sie ist nicht neu, sondern wiederholt die bei dem Spanier Luys Milan gebräuchliche Notation)“ [Leo Schrade (Hrsg.), Libro de Musica de Vihuela de Mano Intitulado El Maestro in: PäM, Publikationen Älterer Musik Bd. II, Luys Milan, Musikalische Werke, Leipzig 1927]. Julius Giesberts Neuerung ging also auf die „Neapolitanische Tabulatur“ zurück, die dem Notenleser insofern naheliegt, als hier die hohen Töne wie bei der herkömmlichen Notation „oben“, also auf den jeweils höheren Linien aufgeschrieben sind. Bei der italienischen Lautentabulatur war es umgekehrt. Hier waren die höchsten Töne auf der unteren Linie. Auch bei der französischen Lautentabulatur sind die hohen Töne „oben“, also auf höheren Tabulaturlinien notiert, allerdings sind die Greifbünde nicht numeriert, sondern sind mit Buchstaben bezeichnet. Hier ist „a“ die leere, nicht gegriffene Saite, „b“ der erste Bund, „c“ der zweite usw. Schon im 17. Jahrhundert war der überwiegende Teil des Repertoires „französisch“ aufgeschrieben und die französische Tabulatur war es auch, die im 18. Jahrhundert, als die Laute schließlich aus dem Musikleben verschwand, benutzt wurde. Wenn heute sichergestellt werden soll, dass wissenschaftliche Ausgaben von Lautenmusik „für die musikalische Praxis unmittelbar verwendet werden können“, müssen Tabulaturen in diese Ausgaben aufgenommen werden – und wenn sie gleichzeitig der Wissenschaft als Grundlage für weitere Forschungen dienen, und wenn sie „einer wissenschaftlich fundierten Kritik“ unterworfen werden sollen, sind Übertragungen unentbehrlich. Im „Erbe deutscher Musik“ erschien 1939 erstmalig ein Band mit Lautenmusik:

Hans Neemann (Hrsg.), Lautenmusik des 17./18. Jahrhunderts, Ausgewählte Werke von Esaias Reusner und Silvius Leopold Weiß, Braunschweig 1939, Reihe: Das Erbe Deutscher Musik, Hauptreihe Band 12

Dolmetsch Arnold Laute 400x494Hier sind die Tabulaturen der veröffentlichten Stücke in Neusatz (also nicht Faksimile) wiedergegeben, darüber Übertragungen, und zwar polyphon ergänzt und im oktavierenden Violinschlüssel-System (für Gitarre). Neemann schreibt zu seiner eigenen Übertragung: „Die Notenübertragung des Tabulatursatzes steht in der üblichen Notation für Laute und Gitarre.“ Üblich war diese Schreibweise für Gitarrenmusik und sie wurde auch von Spielern der Laute in Renaissance-Stimmung verwendet. Die von Neemann abgedruckte Tabulatur kann allerdings nur von Spielern von Barocklauten mit entsprechender Besaitung und Stimmung gespielt werden. Neemann (1901—1945) war ein Musiker und Musikpädagoge, der das Spiel nach Tabulaturen bevorzugte und propagierte. „Ähnlich konsequent wie Giesbert [Franz Julius Giesbert (1896—1972), Lautenist und Herausgeber von Lautenmusik in Neuwied am Rhein] war Hans Neemann (1901—1945), der sich ganz der Barocklaute verschrieben und verschiedene wichtige Ausgaben, […] ediert hat. Der österreichische Lautenforscher Josef Klima meint sogar: „Die Wiedererweckung der D-moll-Laute war ausschließlich ein Werk Hans Neemannns (Berlin). Sein Verdienst ist es, immer wieder auf das Spiel nach der Tabulatur hingewiesen zu haben.“ [Peter Päffgen, Laute und Lautenspiel im XX. Jahrhundert, Teil II in: Gitarre & Laute-ONLINE XXVIII/2006/Nº 1, S. 42] Man bedenke in diesem Zusammenhang, dass Lautenisten des 20. Jahrhunderts zunächst ausschließlich sechs- bis achtchörige Instrumente in „Renaissance-Stimmung“ gespielt haben. Auch der sehr verdienstvolle Walter Gerwig (1899—1966), der bis 1960 der einzige Dozent für Laute an deutschen Musikhochschulen war, hat ausschließlich diese „Renaissance-Laute“ gespielt, ein Instrument in der Stimmung G-c-f-a-d’-g’ (zuzüglich zwei bis drei Bass-Saiten). Auf dieser Laute hat er als Erster Werke von Johann Sebastian Bach für die Schallplatte eingespielt! Ein konsequenteres Umdenken geschah bei den Angehörigen der Schülergeneration von Gerwig: bei Eugen Dombois (*1931) beispielsweise, Michael Schäffer (1937—1978), Eicke Funck (*1934) oder Dieter Kirsch (*1940) und für deren Schüler war das Spiel nach Tabulaturen und das Erforschen und mögliche Anwenden authentischer Spieltechniken schon eine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig befassten sich immer mehr Instrumentenmacher mit der Herstellung von Kopien historischer Lauteninstrumente. Einer der ersten Instrumentenmacher im 20. Jahrhundert, der Lautenkopien herstellte, war Arnold Dolmetsch (1858—1940), Konstruktionszeichnungen für Lauten von Hermann Hauser aus dem Jahr 1922 finden sich bei Robert S. Cooper [Lute Construction, Savannah, Georgia, 1963]. Nach 1945 und speziell in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wuchs das Interesse an „Alter Musik“. Die „Schola Cantorum Basiliensis“ und andere Hochschulen begannen, auf „Alte Musik“ ausgerichtete Musiker und Lehrer auszubilden; in der Schallplattenindustrie wurden spezialisierte Labels gegründet; Verlage begannen, Literatur und Ausgaben für dieses Segment des Musiklebens herauszubringen. Was Lautenmusik angeht, wurden in der Folge mehrere größere Editionsreihen aufgelegt, darunter „Corpus des Luthistes Français“ vom CRNS (Centre National de la Recherche Scientifique) in Paris. Als internationaler Standard etablierte sich, dass Tabulaturen abgedruckt wurden und in synoptischer Gegenüberstellung Übertragungen im Sopran-Bass-Schlüssel-System – dabei wurden bei den Ausgaben des CNRS die Tabulaturen prinzipiell im Neusatz mitgeliefert, bei anderen Editionsprojekten auch als Faksimilia. Die Diskussion zwischen Leo Schrade und Otto Gombosi über prinzipielle Richtlinien beim Übertragen von Lautentabulaturen hat sich insofern überlebt, als Tabulaturübertragungen nur noch polyphon ergänzt veröffentlicht werden … das heißt also, dass die Methode von Schrade, in der „mit Rücksicht auf das tatsächliche Klangbild die undifferenzierte Schrift der alten Tabulatur“ [Leo Schrade, a.a.O., S. VIII] wiederholt wird, keine weiteren Vertreter gefunden hat. Tabulaturen werden in modernen wissenschaftlichen Ausgaben von Lautenmusik immer abgedruckt, weil sie für die instrumentale Praxis unentbehrlich sind. Außerdem liefern sie Informationen, die in Übertragungen nur auf umständliche Art darzustellen wären. Eine Tabulatur gibt nicht nur über die Parameter Tonhöhe und rhythmische Werte einer musikalischen Figur Aufschluss, sondern gleichzeitig über viele instrumentenspezifische Details wie Fingersätze oder Anschlagsregeln, die deutliche Hinweise auf die vom Komponisten angestrebte Phrasierung und Akzentuierung geben. Was Silvius Leopold Weiss angeht, sind nach 1945 einige Quellen-Editionen erschienen, darunter ein Faksimile der Handschrift Mus. 2841-V-1 der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden, das aber ob seiner starken Verkleinerung kaum lesbar und daher für Musiker kaum verwendbar ist:

Silvius Leopold Weiss, 34 Suiten für Laute solo, Faksimiledruck der handschriftlichen Tabulatur Mus.2841-V-1 der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Mit quellenkundlichen Bemerkungen von Wolf Reich, Leipzig, Zentralantiquariat der DDR

und – nach Editionsstart der hier zu würdigenden Gesamtausgabe – eine Ausgabe der Handschrift MS 282/8 des Glinka Staatsmuseums in Moskau. Letztere Ausgabe ist mit Faksimile und Übertragungen a. im Sopran-Bass-Schlüssel-System und b. für Gitarre ausgestattet.

Tim Crawford (Hrsg.), The Moscow ‚Weiss’ Manuscript, M. I, Glinka State Central Museum of Musical Culture, MS 282/8, Transcribed and Edited by Tim Crawford, Bd. 1: Facsimile and Transcription, Bd. 2: Arranged for Guitar by Alan Rinehart, Columbus/Ohio 1995, Editions Orphee, Reihe: Monuments of of Lutenist Art, Vol. 1

Die Denkmäler-Ausgabe von Hans Neemann ist bereits erwähnt, eine weitere, größer angelegte Ausgabe mit Werken von Silvius Leopold Weiss kam 1967 (?) heraus:

Silvius Leopold Weiss, Intavolatura di Liuto, Trascrizione in notazione moderna di Ruggero Chiesa, Milano s.d., Edizioni Suvini Zerboni [1967/1968 ?]

Ruggero Chiesa (1933—1993) war ein verdienstvoller Herausgeber von Musik für Gitarre und so enthält diese Ausgabe ausschließlich Übertragungen im oktavierenden Violinschlüssel-System, allerdings ohne die sonst in Gitarrenmusikausgaben üblichen spieltechnischen Anweisungen.

Silvius Leopold Weiss, Sämtliche Werke für Laute in Tabulatur und Übertragung, herausgegeben von Douglas Alton Smith im Auftrag der Musikgeschichtlichen Kommission e.V., Frankfurt u.a., C. F. Peters
Band 1: Die Handschrift London, British Library Add. 30387, Faksimile der Tabulatur, Teil I, Frankfurt u.a. 1983, C.F. Peters 8481, € 89,–
Band 2: Die Handschrift London, British Library Add. 30387, Faksimile der Tabulatur, Teil II, Frankfurt u.a. 1988, C.F.Peters 8482, € 109,– Band 3: Die Handschrift London, British Library Add. 30387, Übertragung, Teil I, Frankfurt u.a. 1985, C.F. Peters 8483, € 99,– Band 4: Die Handschrift London, British Library Add. 30387, Übertragung, Teil II, Frankfurt u.a. 1990, C.F. Peters 8484, € 119,–

Ab Band 5: Silvius Leopold Weiss, Sämtliche Werke für Laute, herausgegeben von Tim Crawford im Auftrag der Musikgeschichtlichen Kommission e.V. als Bände 11 ff. der Sonderreihe, Kassel u.a., Bärenreiter-Verlag
Band 5: Die Handschrift Dresden, Faksimile der Tabulatur Teil I, Kassel u.a. 2002, Bärenreiter ISMN M-006-01802-4, € 225– Band 6: Die Handschrift Dresden, Faksimile der Tabulatur, Teil II, Kassel u.a. 2002, Bärenreiter ISMN M-006-01803-1, € 177,– Band 7: Die Handschrift Dresden, Übertragung, Teil I, Kassel u.a. 2007, Bärenreiter ISMN M-006-01804-8, € 270,– Band 8: Die Handschrift Dresden, Übertragung, Teil II, Kassel u.a., 2007, Bärenreiter, ISMN M-006-01805-5, € 317,–

„Die Musik von Silvius Leopold Weiss liegt uns in 34 Handschriften und einem zeitgenössischen Druck vor. Die zwei größten Quellen sind Ms. Add. 30387 der British Library, London, und Mus. 2841-V-1 der Sächsischen Landesbibliothek, Dresden. Zusammen enthalten diese beiden Handschriften mehr als zwei Drittel der Kompositionen von Weiss. Sie sind nicht nur die umfangreichsten, sondern in den meisten Fällen auch die besten Quellen." (Bd. 1, S. IX-X). Die bisher erschienenen Bände der Ausgabe enthalten die beiden Hauptquellen und zwar je zwei Bände Faksimile und zwei Bände Übertragungen. Alle Konkordanzen, das heißt, alle Stücke, die bereits in der Londoner Handschrift enthalten waren, werden in der Dresdner Handschrift nicht noch einmal abgedruckt. Ein „Werkeverzeichnis Silvius Leopold Weiss“ liegt bisher nicht vor. Tim Crawford, der Herausgeber seit „Band 5“ der Gesamtausgabe, kündigt es für die Zeit nach Abschluss der Ausgabe an. Darin sollen dann Fragen der Quellenlage, der Chronologie und Echtheit geklärt werden [s. den Artikel Editing Weiss for the „Sämtliche Werke“: The composer’s contribution to the London and Dresden manuscripts“ auf der Webpage des Autors http://www.doc.gold.ac.uk/~mas01tc/web/ttc/Congress_Article.html]. Ob es sinnvoll ist, Fragen der Datierung und Authentizität von Quellen zu behandeln, nachdem eine repräsentative Gesamtausgabe herausgegeben wurde, bleibt abzuwarten. Sollten aufgrund weiterführender Forschungen Ergänzungen oder gar Änderungen an der Ausgabe vorgenommen werden müssen, würde das Ansehen der ersten Gesamtausgabe von barocker Lautenmusik dadurch beschädigt. Die Herausgeber haben sich dafür entschieden, Tabulaturen und Übertragungen nicht synoptisch (über- oder nebeneinander) abzudrucken, wie das die Herausgeber der CNRS-Ausgaben und die meisten anderen getan haben. Ein Argument, das für diesen getrennten Abdruck gesprochen hat, ist, dass eine synoptische Anordnung viel mehr Wendestellen mit sich gebracht hätte … schließlich sind die Tabulaturbände der praktische Teil der Ausgabe! Außerdem hätten alle Tabulaturen neu gesetzt werden müssen, da man sie nur so Zeile für Zeile dem Notensatz gegenüber stellen kann. Der Tabulaturabdruck als Faksimile birgt den Vorzug der Präsentation des originalen Bildes in sich – gleichzeitig den Nachteil, dass man offenkundliche Fehler nicht korrigieren kann. Dem ist man bei dem Faksimile-Nachdruck des Londoner Manuskripts so begegnet, dass man bei Schreibfehlern am Blattrand die korrigierten Takte in Neusatz abgedruckt hat (siehe Beispiel: London British Library Add. 30 387, fol. 18, Takt 99)

Wenn man – wie hier – Quellen in ihrer originalen Form abdruckt, ist man an die Reihenfolge gebunden, in der die Einzelwerke dort erscheinen. Ein Gruppieren nach Gesichtspunkten, die der Herausgeber vorgegeben hat, ist nicht möglich. Eine Einteilung nach Gattungen wäre nicht in Frage gekommen, weil es sich bei den Werken von Weiss fast ausschließlich um Suiten oder Partitas für Laute solo handelt (von Weiss beinahe durchgehend „Suonatas“ genannt). Dazu kommt, dass man nur einen sehr kleinen Teil der Werke mit Sicherheit datieren kann – eine Reihenfolge nach der Entstehungszeit des jeweiligen Stücks wäre also auch kaum festzulegen. Sicher ist jedoch, dass die Reihenfolge, in der die Stücke in den jeweiligen Handschriften stehen, nichts mit ihrer Entstehungszeit zu tun hat. Der Wechsel des Generalherausgebers der Weiss-Ausgabe nach Band 4 hat einige grundsätzliche Änderungen mit sich gebracht, auf die man deutlicher hätte hinweisen müssen. Zum Beispiel steht in Band 1: „Nur die Londoner Tabulatur wird faksimiliert, die übrigen Tabulaturen […] wurden aus praktischen Gründen […] neu geschrieben“ [S. X]. Davon ist man abgegangen und hat auch die Dresdner Handschrift bis auf die schlecht bis überhaupt nicht lesbaren Seiten faksimiliert (und auch die sind im Anhang faksimiliert, um ihre Nichtlesbarkeit zu belegen [?]). Das Vorwort (zu Band 1) des ersten Herausgebers Douglas Alton Smith wird in Band 5 wiederholt, im ersten Band also, für den Tim Crawford zuständig ist. Der Text ist verändert – und zwar mit der Anmerkung als Fußnote „Revidiert von Tim Crawford“. Der eben zitierte Satz zum Thema „Faksimile oder Neusatz“ ist durch diesen ersetzt worden: „Die Londoner und Dresdner Tabulaturen sind im Faksimile wiedergegeben, aber wegen des unterschiedlichen Erhaltungszustands und der erheblich voneinander abweichenden Formate der Quellen, ist es nicht möglich, alle Weißschen Stücke aus den übrigen Handschriften photographisch zu reproduzieren; sie werden in einer Computernachschrift der Tabulaturen vorgelegt.“ [Bd. 5, S. VIII] Diese und andere Änderungen am Vorwort bemerkt der Benutzer der Ausgabe allerdings erst beim genauen Lesen (unter anderem der Fußnoten), weil Schriftbild und Zeilenfall, das ganze Erscheinungsbild sozusagen, den Eindruck erwecken, es handle sich um einen unveränderten Nachdruck des Vorworts aus Band 1 … und weitgehend ist der Text auch wirklich unverändert geblieben. Hier wäre angebracht gewesen, neben dem originalen Vorwort ein Kapitel zu den Änderungen der Editionsrichtlinien und auch zu ihrer Begründung einzufügen. Schließlich dient die Ausgabe nicht nur den praktischen Bedürfnissen moderner Lautenisten, sondern auch dem Diskurs unter Fachwissenschaftlern. Der Neusatz der Tabulatur ist gut lesbar und dem barocken Vorbild entsprechend ausgeführt worden. (siehe Beispiel, Band 5, S. 171).

 

Leider ist man ab Band 5, dem ersten Band der Dresdner Handschrift, dazu übergegangen, Fehler in Neusatz am Rand der jeweiligen Tabulaturseiten zu korrigieren, sondern nur noch im Kritischen Bericht. Wenn die Tabulaturbände die praktisch zu verwendenden Teile dieser Edition sind, dann ist die Verwendbarkeit mit dieser Entscheidung eingeschränkt. Jetzt braucht der Lautenist die Bände mit Übertragungen – nur in diesen stehen die Kritischen Berichte --, um von den Herausgebern Hinweise auf Schreibfehler zu erhalten. Das ist umso bedauerlicher, als die Tabulaturbände, die in Faksimile wiedergegeben sind, mindestens für die Londoner Handschrift die einzigen verfügbaren Spielvorlagen sind. Es gibt zwar ein Faksimile der Dresdner Handschrift, das ist aber für praktische Zwecke unbrauchbar. Im Kritischen Bericht sind ab Band 8 Zitate nur noch in Übertragung wiedergegeben – vorher waren es Tabulaturzitate. Auch diese Änderung erfolgte kommentarlos. Da die Schreibfehler in der Tabulatur vorgefallen sind, hätten sie auch in Tabulatur zitiert werden müssen – dies ist eine weitere Entscheidung zuungunsten der praktischen Verwendbarkeit dieser Ausgaben!

Die Übertragungen erfolgten in „Akkoladen zu zwei enggerückten Systemen“, was der heute etablierten Praxis für Ausgaben von Lautenmusik entspricht. Die beiden Systeme stehen so nah beieinander, dass nur noch die Hilfslinie „c“ dazwischenpasst, die für beide, für das System im Violinschlüssel und für das im Bassschlüssel, Gültigkeit besitzt. Caudiert wird nach den gültigen Regeln – in der Richtung der Behalsung sind keine weiterführenden Informationen bezüglich Stimmverlauf oder Aufführungspraxis enthalten. Zwischen den Übertragungsrichtlinien von Douglas Alton Smith und denen von Tim Crawford gibt es ein paar prinzipielle Unterschiede, die in der Mehrdeutigkeit der Tabulatur begründet sind. Außerdem sind von beiden Herausgebern Vereinfachungen vorgenommen worden, was die Stimmführung angeht, und zwar, „um eine Überfülle von Synkopierungen und Haltebögen zu vermeiden.“ Douglas Alton Smith meint dazu: „Man muss sich damit abfinden, dass weder Tabulatur noch moderne Notation allen Aspekten dieser Musik gerecht werden kann.“ [Bd. IV, S. IX] Die große und ebenso lang erwartete wie umkämpfte Gesamtausgabe der Lautenwerke von Silvius Leopold Weiss besteht bisher aus zwei Quelleneditionen und den entsprechenden Übertragungen mit Kritischen Berichten. Erst die jetzt noch folgenden Bände werden die Ergebnisse der bisher erfolgten Quellenforschung krönen – immerhin stehen Stücke aus 32 der insgesamt 34 Quellen noch aus. In den Kritischen Berichten der Bände 4 und 8 sind die Konkordanzen schon eingearbeitet. Der Wechsel im Herausgeberteam der Ausgabe hat nicht nur eine Verzögerung in der Erscheinungsfolge mit sich gebracht, er hat auch zu Änderungen der Editionsrichtlinien geführt. Das ist nicht weiter erstaunlich wenn man in Betracht zieht, dass dies die erste groß angelegte wissenschaftlich-kritische Ausgabe von barocker Lautenmusik ist. Dass aber die Editionsrichtlinien in mehreren Details gegen die musikpraktische Verwendbarkeit der Ausgabe verändert worden sind, hätte vermieden werden müssen. Dass die Bände der Weiss-Gesamtausgabe von Band zu Band um ein derartiges Maß teurer geworden sind, macht sie für Musiker nicht attraktiver. Es bleibt abzuwarten, wie viel die beiden letzten, spannend erwarteten Bände kosten werden!