Foto oben: Alirio Díaz am 31. März 2006 im Garten seines Hauses in Carora. Foto: © by Brigitte Zaczek, Wien
Alirio Díaz (geboren am 12. November 1923 in La Candelaria/Venezuela) ist am 5. Juli 2016 in Rom gestorben. Mit ihm ist einer der letzten Vertreter der Generation Gitarristen um Andrés Segovia von der Bühne abgetreten, ein Musiker, der als kultureller Botschafter seines Heimatlands die ganze Welt bereist hat und der zuhause, in Venezuela, seit vielen Jahren als kulturelles Denkmal geehrt und bewundert wurde.
Alirio Díaz wird nicht nur zugeschrieben, einer der bekanntesten und einflussreichsten Gitarristen seiner Zeit gewesen zu sein, er wird auch als einer, der die venezolanische Folklore reformiert und zu neuer Anerkennung gebracht hat, gefeiert. Tatsächlich hat er nicht nur zwei Reformen oder Neuschöpfungen miterlebt, er hat sie initiiert oder mindestens beeinflusst. Die eine galt der Gitarre als Konzertinstrument, die andere der Volks- und Kunstmusik Venezuelas.
In La Candelaria, ungefähr dreißig Kilometer von Carora in Venezuela entfernt, wurde Alirio Díaz geboren. Die wirtschaftlichen Verhältnisse im Land waren in den zwanziger Jahren katastrophal und so blieb Alirio wie seinen zehn Brüdern nichts anderes, als mit Feldarbeit ihre Familie zu unterstützen. Mais und Kartoffeln wurden angebaut, eine Schule gab es nicht. Bei Verwandten lernte der Junge Lesen und Schreiben, er erwies sich als neugierig und wollte lernen.
In den venezolanischen Dörfern und kleineren Städten gehörte es zur Tradition, dass man sich von der harten Arbeit erholte, indem man Lieder sang und tanzte. Irgendjemand nahm eine Gitarre und spielte … nach Gehör natürlich, denn Musikunterricht gab es nicht und niemand konnte Noten lesen. Auf jeden Fall wurde so irgendwie eine Renaissance venezolanischer Folklore und Kunst vorbereitet. Unter der rigiden Führung von General Gómez, der Venezuela von 1908 bis 1935 regierte, war das Land isoliert von allen künstlerischen Kontakten, aber eine Änderung der Verhältnisse zeichnete sich ab. Personen wie der Musiker Vicente Emilio Sojo (1887—1974), der das Orquesta Sinfónica Venezuela gegründet hat und der sich für eine Dokumentation venezolanischer Folklore einsetzte, bewirkten den gewünschten kulturellen Umschwung. Sojo harmonisierte mehr als 250 Volksmelodien, die Alirio Díaz später für Gitarre bearbeitete.
Gleichzeitig initiierte Sojo Interesse an europäischer Musik. Ihn selbst hatten „la técnica modulatoria de Franck, la fineza expresiva de Fauré, la intensidad poética de Debussy y la suma impieza de ‚Ma mère l’oye’ de Ravel“ besonders beeindruckt. Diese Eindrücke, zusammen mit dem Willen zur Revitalisierung einer eigenen Folklore, machten Sojo zu einem der produktivsten und kreativsten venezolanischen Komponisten seiner Zeit.
Alirio Díaz hat von dem Aufblühen einer neuen volkstümlichen Musikkultur profitiert. Cuatro oder Gitarre zu spielen, gehörte immer mehr zum täglichen Leben und Alirio machte seine ersten Versuche mit dem Cuatro seines Vaters, als er sieben oder acht Jahre alt war. Und Mandoline spielte er auch … und verdiente mit diesem Instrument sein erstes Geld, um seine Familie zu unterstützen: „tocando en bailes y fiestas con un bandolín que nunca supe cómo pude aprender a tocar“.
Aber jede musikalische Tätigkeit, der sich Alirio Díaz hingab, war ausschließlich privater Art und beruhte auf autodidaktischen Studien. Einige Musiker seiner Zeit haben ihn fasziniert und beeindruckt, einige haben ihm auch den einen oder anderen Tipp gegeben, aber einen irgendwie regelmäßigen Unterricht hat es nicht gegeben. Ein entscheidendes Ereignis für Alirio war, dass im Jahr 1930 Agustín Barrios Mangoré in Carora gespielt hat. Mehr wissen wir darüber nicht, nicht einmal, ob Díaz das Konzert wirklich besucht hat … er sagt heute, er sei dort gewesen und werde dieses Erlebnis nie vergessen.
Foto unten: Alirio Díaz und Peter Päffgen, Carora 2000, © by Dorothea Päffgen
Ein paar Jahre später stellte sich für Alirio Díaz eine existenzielle Frage, die seiner beruflichen Zukunft nämlich. Die meisten seiner Altersgenossen begnügten sich damit, in ihrer Heimat als Bauern zu arbeiten. Andere verließen das Land und verdienten auf den Ölfeldern von Zulia ihr Geld. Aber Alirio wollte zur Schule gehen und lernen. Sein Vater Pompilio unterstützte ihn zwar nicht, schließlich las Alirio aber in der Zeitung, es gebe ein Stipendium, das speziell an Kinder aus armen Familien gegeben werde. Alirio begab sich auf den Weg nach Barquisimeto, dem Sitz einer Bezirksregierung, und nahm, fest entschlossen, in einem Karton seine Habseligkeiten mit. Er wollte ein Stipendium beantragen, das er schließlich aber nie in Anspruch genommen hat, denn wohlwollende Berater haben ihm empfohlen, nicht Philosophie und Literatur zu studieren – daran war die Vergabe des Stipendiums gebunden –, sondern Musik. Also ging der junge Mann nicht nach Barquisimeto, sondern nach Trujillo, um dort eine Ausbildung in klassischer Musik zu beginnen. Neben „seinen“ Instrumenten Cuatro und Gitarre wurde er dort in Harmonielehre, Theorie, Musikgeschichte und Gehörbildung ausgebildet, außerdem lernte er Klarinette und Saxophon. Díaz spielte in einer lokalen Band, lernte Englisch und hatte erste Engagements beim Rundfunk. Bei Raúl Borges, dem Schöpfer der venezolanischen Gitarrenkultur, erhielt er schließlich in Caracas Unterricht … und damit begann seine akademische Ausbildung zum Gitarristen. Im November 1950 zog er nach Madrid.
Andrés Segovia hatte vorher in Venezuela konzertiert, einmal 1945 und einmal 1948, und Díaz hat beide Konzerte in Caracas gesehen, was wesentlichen Einfluss auf seinen weiteren Lebensweg hatte. Alirio war so begeistert, dass er Segovias Schüler in Siena wurde und wenig später sein Assistent und schließlich Nachfolger. Spätestens damit war Alirio Díaz’ internationale Karriere besiegelt … und spätestens damit beginnt auch die Lebensgeschichte des Gitarristen Alirio Díaz, die allgemein – aus zahllosen Interviews zum Beispiel, aus Zeitschriftenartikeln und Liner Notes – bekannt ist. In Carora gibt es heute eine Fundación Alirio Díaz mit einem Museum und auch das städtische Theater trägt seinen Namen.