Luys Milán
El Maestro, Libro I (1536)
José Antonio Escobar, Vihuela de mano
Aufgenommen im Mai 2014, erschienen 2015
Vihuela: Julio Castaños, Málaga
NAXOS 8.573305
… sehr klangbewusst und eloquent …
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Das Tabulatur- und Unterweisungsbuch „El Maestro“ ist das älteste überlieferte Werk seiner Art. 1536 ist es in Valencia gedruckt worden und sollte die einzige Sammlung mit Kompositionen bleiben, die wir von Milan haben. Zwei weitere Bücher hat er geschrieben bzw. herausgegeben, aber sie enthalten keine musikalischen Werke. Das erste hieß „El Cortesano“ und war ein Text, der in der Tradition des berühmten „Libro del Cortegiano“ von Baldassare Castiglione (1478–1529) stand. Der Titel des zweiten lautete „Libro de motes de Damas y Caballeros“ und erschien 1535, also ein Jahr vor dem „El Maestro“.
José Antonio Escobar spielt auf seiner ersten Milan-CD alle Stücke des ersten Buches des „EL Maestro“ und zwar exakt in der Reihenfolge wie in der Quelle von 1536: 22 Fantasias und 6 Pavanas. Ob es klug war, die Fantasien in dieser Reihenfolge zu spielen, darüber kann man geteilter Meinung sein. Milan hat sie nach Tonarten geordnet und insgesamt nach Schwierigkeit, eine zyklische Darstellung war aber sicher nie vorgesehen. Es ist knapp eine Stunde Musik höchster Dichte, die beim Zuhören Konzentration voraussetzt.
Das Instrument übrigens, das Escobar spielt, hat er mit fünf Doppelchören und einer Chanterelle (einer einzelnen Diskantsaite) bezogen … was nicht unbedingt bei Vihuelisten gängig war. Dass Vihuelas prinzipiell doppelt besaitet worden sind, finden wir bei wichtigen Autoren wie Juan Bermudo (1510–1565) bestätigt, aber wissen wir auch, ob alle Musiker es so und nie anders gehalten haben? Laute und Vihuela waren äußerst eng miteinander verwandt und wer sagt, dass Spieler beider Instrumente nicht Erfahrungen und Usancen ausgetauscht haben? Außerdem: Darmsaiten waren äußerst empfindlich und rein klingende Saiten für den ersten Chor – die am höchsten klingende(n) Saite(n) – waren gesucht und teuer.
Dass Escobar den ersten Chor seiner Vihuela einzeln besaitet hat, sieht man auf dem Titelfoto seiner CD, aber man hört es auch! Sein Spiel ist eher oberstimmenbetont, als man es von Vihuelisten gewohnt ist. Und warum heißt die Chanterelle schließlich Chanterelle? Sie war führend beim Ausführen der jeweiligen Gesangsstimme. Hans Gerle nannte sie „gesang saitten“ und damit bestätigte er ihre Funktion. Vihuela-Spieler wollten eher ein polyphones Gewebe zeichnen, in dem eine strahlend dominierende Sopranistin keinen Platz gehabt hätte … so jedenfalls argumentieren viele Wissenschaftler und Autoren und – zugegeben! – ich selbst auch! In meinem Buch über „Die Gitarre“ habe ich eine Vihuela beschrieben als ein Instrument mit „sechs Saitenchören, alle doppelt und unisono gestimmt“ (S. 53), als hätte es keine Experimente und keine Abweichler gegeben! Natürlich hat es die gegeben, außerdem ist die Vihuela ein vergleichsweise junges Instrument gewesen, für das die konstruktiven und die aufführungspraktischen Regeln noch keineswegs in Stein gemeißelt waren.
Und doch: Das klangliche Erlebnis bei einer Vihuela mit einer echten Chanterelle ist ein anderes, als bei einer mit doppeltem ersten Chor. Gerade die Vihuela-Tabulatur von Luys Milán hätte dabei die „traditionelle Vihuela-Besaitung“ vertragen, weil die enthaltenen Kompositionen, wie auch John Griffiths in seinen lesenswerten Liner Notes schreibt, noch keinerlei Einfluss des polyphonen Stils von Francesco da Milano verraten. Aber schon in der ersten Fantasia höre ich phasenweise die Polyphonie, wie wir sie von Francesco kennen, verwirklicht in betörend schönen Melodien … die in ihrer Gesanglichkeit auf Einzelsaiten besonders zur Geltung kommen.
José Antonio Escobar spielt sehr klangbewusst und eloquent und bringt damit die fast fünfhundert Jahre alte Musik zum Leben. Musik von Milan hört man zwar gelegentlich, auch auf der Gitarre, aber es ist immer wieder eine ähnliche Auswahl: Eine Fantasia oder zwei vielleicht, oft die sechs Pavanen und oft auch eine Gruppe ausgesuchter Stücke zusammen mit Kompositionen anderer spanischer Vihuelisten (auch da meist eine sehr ähnliche Auswahl). Jetzt hat sich Escobar offenbar entschlossen, alles von Milan auf CD zu präsentieren. Bis jetzt liegen vor: 66:05 Minuten Renaissance-Musik höchster Qualität, gespielt auf einem Instrument, das in der Musikgeschichte nur für kurze Zeit Ansehen genießen konnte. Aber notabene! Dies ist keine Aufnahme, die einen ausschließlich dokumentarischen Zweck erfüllen soll. Denn auch, wenn das Programm fast nur aus Fantasias besteht, hören wir eine üppige Vielfalt musikalischer Ideen, die für ihre Entstehungszeit sehr fortschrittlich war.