Giuliani pop

Nigel North Baroque Lute CDNigel North: Baroque Lute
Werke von Silvius Leopold Weiss, Antonio Vivaldi und Johann Sebastian Bach
Aufgenommen im März 1990
Laute: (kein Instrumentenbauer angegeben) provided by the University of Edinburgh, Collection of Historical Instruments
LINN Records BKD 006, im Vertrieb von NAXOS


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Nigel North beginnt seine eigenen sleeve notes zu dieser Platte so: „Over twenty years ago I heard a record of Baroque lute music for the very first time with Eugen Dombois playing music by Weiss, J. S. Bach, Kellner and Conradi. It was a revelation to me and many other people at that time; the first piece I heard on this recording was Sylvius Leopold Weiss‘ „L’Infidèle“ Sonata and it was this piece which initially inspired me to play the D minor tuned eighteenth-century lute“.

Ich, der Rezensent, war einer der „many other people“ und ich erinnere mich lebhaft und gern an den Moment, als ich die LP von Eugen Dombois (damals noch Eugen M. Dombois und vorher Eugen Müller-Dombois) hörte! Sensationell! Ich war überzeugt, dass ich mich in diese Richtung orientieren wollte oder gar musste: Barocklaute und insbesondere Silvius Leopold Weiss.

Die Laute, die Dombois damals spielte, stammte von Nico van der Waals, und er, van der Waals, sollte noch lange einer der meistgenannten Instrumentenmacher sein, wenn es um Barocklauten ging. Aber das Spiel der Barocklaute in d-Moll-Stimmung blieb noch ziemlich lange terra incognita … während die Laute in Quart-Stimmung gleichzeitig ihre zweite Renaissance erlebte – Walter Gerwig spielte dabei eine Rolle, natürlich Julian Bream, Robert Spencer und Konrad Ragossnig.

Aber erst die nächste Musikergenration konnte die Früchte von den Bäumen ernten, die die Pioniere gepflanzt hatten. Eugen Dombois, Michael Schäffer und Jürgen Hübscher waren Schüler von Gerwig; Hopkinson Smith und Paul O’Dette von Dombois; Konrad Junghänel und Tadashi Sasaki von Michael Schäffer usw. usw. Der Lautenisten-Stammbaum ließe sich lange fortführen. Julian Bream und Bob Spencer haben eher als Inspiratoren auf die nächste Generation gewirkt. Unterrichtet haben sie nicht, dennoch konnten sie Begeisterung für die Laute generieren.

Die erwähnte LP von Eugen Dombois jedenfalls ist Anfang der siebziger Jahre erschienen und war tatsächlich die erste Schallplatte, die auf einer Barocklaute aufgenommen worden ist. Walter Gerwig hatte zwar schon Barockmusik auf einer Laute gespielt und davon ist auch eine Platte erschienen … aber es war immer eine Renaissance-Laute, die er dafür verwendet hat!

Neben der „L’Infidèle“ spielt Nigel North auf der CD noch drei Einzelsätze von Weiss (Prelude, Fantasia, Fugue), weiter eine eigene Transkription des Violinkonzerts D-Dur op. 3/9 von Antonio Vivaldi, das Johann Sebastian Bach schon für ein Tasteninstrument transkribiert hat (BWV 972). Es folgt das Tombeau auf den Tod des Grafen Logy von Weiss und schließlich die legendäre Chaconne aus der Partita d-Moll BWV 1004 von Johann Sebastian Bach

Dass Nigel North Transkriptionen spielt und speziell die Chaconne, lässt irgendwie den Verdacht keimen, er habe – wie viele seiner Kollegen – eine Vorgeschichte als Gitarrist. Im Booklet erklärt er zudem, warum er Transkriptionen auf seiner CD anbietet … und er tut das mit genau den manchmal fadenscheinigen Argumenten, die man sonst von Gitarristen hört.

Und wie spielt er die Chaconne? Wenn ich Nigel North höre, erhärtet sich der Verdacht, er sei, bevor er sich der Laute und der Alten Musik zugewandt hat, Gitarrist gewesen. Tatsächlich hat er übrigens zuerst an der „Guildhall School of Music and Drama“ Gitarre studiert und danach bei Diana Poulton am „Royal College of Music“ Laute. In sein zweites Studium hat er ganz offenbar aus seinem ersten einiges mitgenommen – ein- und aufdringliche Vibrati beispielsweise, auch virtuose Skalen und Figuren und sogar agogische Eigenheiten, die er vermutlich – man wagt es kaum zu behaupten – bei Andrés Segovia abgekupfert hat.

Aber Nigel North präsentiert sein Programm ehrlich und überzeugend. Wie nah er den musikalischen Vorbildern Weiss und Bach mit seinen Interpretationen gekommen ist oder überhaupt kommen wollte, kann nicht entschieden werden … und ist schließlich auch von nur sekundärer Bedeutung. Es geht schließlich darum, ob er einen Weg gefunden hat, die Musik für alle Zuhörer überzeugend darzustellen und wirken zu lassen – und das ist Nigel North zweifellos gelungen. Es ist große, elegante Barockmusik erster Güte, die wir da hören. Der Interpret ist nicht immer streng dem Pfad der historischen Aufführungspraxis gefolgt, aber hat er einen irgendwie stimmigen, eigenen Weg gefunden.