Artyom Dervoed, classical guitar
Ghosts & Shadows: Music of Spain
Werke von Mudarra, Tárrega, de Falla, Moreno-Torroba und Rodrigo
Aufgenommen 27–28. Dezember 2014 und 16–17. Januar 2015
Gitarren: Karl-Heinz Römmich, Gabriele Lodi
MEL REC 10 02362, im Vertrieb von NAXOS
… Das passt! …
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[Als Referenzeinspielung:] Laureate Series: Artyom Dervoed
First Prize: 2006 Michele Pittaluga Guitar Competition, Alessandria
Russian Guitar Music
Werke von Biktashev, Orekhov, Rudnev, Koshkin
Aufgenommen im Oktober 2007
Gitarre: Karl-Heinz Römmich
NAXOS 8.570447
… rrrussische Seele …
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Artyom Dervoed wurde 1981 in Rostow am Don geboren, wo er zunächst das Spiel der siebensaitigen russischen Gitarre erlernte. Mit der „normalen“ sechssaitigen Gitarre setzte er seine musikalische Ausbildung fort, ging nach Orekhovo-Zuevo, Moskau, Siena und schließlich, tja, in die Musikmetropole Koblenz! Dort wurde er von Aniello Desiderio unterrichtet, bevor er eine klassische Gitarristenkarriere mit den üblichen Wettbewerben und entsprechenden Konzertverpflichtungen begann.
Eine erste CD von Dervoed mit Musik russischer Komponisten ist 2008 bei NAXOS herausgekommen: Koshkin, Rudnev, Orekhov. Jetzt hat der Gitarrist bei dem neuen russischen Label Melodiya-Records eine zweite CD herausgebracht, die spanische „Klassiker“ enthält. Mit der „Fantasia que contrahaze la harpa en la manera de Ludovico“ von Mudarra beginnt er sein Programm, es folgen „Recuerdos de la Alhambra“, „Homenaje“, „Invocación y Danza“ und andere „Flaggschiffe“ des Repertoires.
Das „neue Label“, übrigens, ist ein Sublabel der Traditionsmarke Melodiya, die 1964 als sowjetischer Staatsbetrieb gegründet worden ist und als Monopolist fungierte. Es waren eher ideologische Kriterien, die bei der Auswahl der Musik, die veröffentlicht werden sollte, bestimmend waren … das änderte sich nach dem Ende der Sowjetunion grundlegend. Die Firma Melodiya schrumpfte von 120.000 [!] Mitarbeitern auf gerade einmal 60 [!], die vielen Label-eigenen Plattenläden in Russland wurden privatisiert oder geschlossen und produziert wurde noch das, was sich verkaufen ließ.
Das neue Label Melodiya-Records ist ein Relikt der Umstrukturierungsmaßnahmen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Eine jüngere Kundschaft soll bedient werden, und zwar mit jüngerem, frischeren Repertoire und vor allem mit neuen Einspielungen. Die Zeit ist vorüber, dass Melodyia sein Programm mit Archivaufnahmen bestreiten könnte.
Aber Artyom Dervoed baut auf Flaggschiffe … womit Kompositionen gemeint sind, die als erprobt und präsentabel gelten; die buchstäblich jeder kennt und um deren Wirksamkeit beim Publikum sich Interpreten keine Sorgen machen müssen. Nicht zu schwer dürfen sie sein, damit Risiken minimiert werden; nicht zu modern, damit niemand erschreckt wird; und schließlich nicht zu komplex, damit Amateur-Gitarristen, die nun mal den größten Teil des Publikums von Gitarren-Recitals stellen, mitreden können.
Welches Stück zum Flaggschiff wird, unterliegt Moden. Vor einigen Jahren war „Koyunbaba“ von Carlo Domeniconi eines, vorher waren es Stücke wie „Asturias“, von Albéniz – auch als „Leyenda“ im Umlauf – und sogar die unsägliche „Spanische Romanze“ von einem Herren Anonymus, die sogar von Siggi Behrend, dem „Weltmeister der Gitarre“, bei jeder Gelegenheit gespielt worden ist und für die er sogar Urheberrechte reklamiert hat.
Mit Repertoirestücken geht man inzwischen generöser um, zugegeben! Trotzdem gehört die „Harfenfantasie“ von Mudarra immer noch zu den Standards und „Recuerdos de la Alhambra“ natürlich auch. Und diese Flaggschiffe werden auch immer noch so oft gespielt, dass ihre Interpreten Mühe haben, sich musikalisch von Ihren Mitbewerbern zu unterscheiden … und das kann man bekanntlich auf vielfältige Art. Man kann schneller oder langsamer als andere spielen, korrekter, leidenschaftlicher, virtuoser oder eigenwilliger … geht alles und gibt es auch alles! Und man kann auch persönliche Extravaganzen bis hin zu Dreistigkeiten einbauen, wie es schon Andrés Segovia getan hat. Beim Hören der ersten Takte der Fantasie von Mudarra, hatte ich den bösen Verdacht, dass Artyom Dervoed seinen Zuhörern genau das zumuten wollte … aber es ist nicht so! Ich höre die eine oder andere Eigenheit … aber wissen wir so genau, wie der Priester Alonso Mudarra und seine Zeitgenossen vor fast 500 Jahren gespielt haben? Über Tempi wissen wir einiges; über die Applikatur der Stücke, weil sie ja in Tabulaturen aufgeschrieben vorliegen; auch über das Verwenden von Verzierungen. Aber schon, dass Artyom Dervoed eine moderne sechssaitige Gitarre verwendet, räumt ihm die Freiheit ein, sich hie und dort von dem historisch Vorgegebenen zu entfernen.
Die „Suite Castillos de España“ von Federico Moreno Torroba auf der CD gefällt mir am besten. Auch die abschließenden Stücke von Joaquín Rodrigo. Souverän im Umgang mit Klängen und musikalischer Dramatik – diese Attribute würde ich hier Dervoeds Interpretationen in besonderem Maß zubilligen.
Die ältere CD mit russischen Stücken enthält überwiegend Werke, die für die moderne, sechssaitige Gitarre geschrieben sind. Lediglich Sergei Orekhov (1935–1988) war ein „Siebensaiter“ und als solchen habe ich ihn 1988, kurz vor seinem Tod in einem Konzert in Polen gehört. Das war sensationell! Orekhov ist zusammen mit einem musikalischen Partner (sechssaitige Gitarre) aufgetreten. Das Programm bestand aus Improvisationen über populäre Lieder und russische Romanzen. Nach dem Konzert schrieb ich (in Gitarre & Laute XI/1989, Nº 1, S. 27): „Was für Musiker!! Die beiden spielten, das vorweg, ein Repertoire, das man bei allen hiesigen Gitarrenduos vergeblich sucht […] Matanya Ophee nannte es „Cabaret Music“ – und das trifft es ziemlich genau. […] Aber das, was die beiden Russen gespielt haben, ist so andersartig, dass man es kaum plausibel machen kann – Musik und Spielweise liegen irgendwo zwischen Zigeuner-Jazz und Kaffeehausschmelz (was die sentimentale und die ausgelassen-lebensfrohe Seite ihrer Stücke betrifft. Aber wie gesagt, man kann es nicht beschreiben! Die Zuschauer jedenfalls haben kopfgestanden und das will bei einem weitgehend gitarristischen Publikum viel heißen.“
Dervoed spielt Variationen über die Romanze „Troika“ von Orekhov, die keineswegs auf die drei Politiker Bezug nimmt, die den griechischen Staat finanziell auf den rechten Weg bringen sollen, sondern auf den traditionellen russischen Dreispänner-Schlitten, mit dessen Hilfe die Post in dem riesigen Russland verteilt wurde. Das Werk ist im Verlag Editions-Orphee erschienen.
In den Variationen, wie Dervoed sie spielt, finden ich zweierlei wieder, die „rrrussische Seele“ und Orekhovs Bühnenpräsenz, wie ich beides in Polen erlebt habe. Von Orekhov ist übrigens 1986 eine Vinyl-LP erschienen (natürlich bei Melodiya, unter C20 24391 000) erschienen, die bis vor einiger Zeit noch bei Editions-Orphee zu haben war. Sollten Sie noch einen Plattenspieler haben!
Zum Schluss seines russischen Programms spielt Dervoed Nikita Koshkins „Prince‘s Toys“ – dieses Stück war auch mal ein Flaggschiff und ist immer noch (oder vielleicht wieder) ein Beispiel für stimmige Programmmusik. Macht immer wieder Spaß!
Von Artyom Dervoed werden wir sicher noch hören! Er gehört der Generation junger Gitarristen an, die sich irgendwie von den ehedem großen Vorbildern losgesagt haben und ihr Ding machen – und zu den großen Vorbildern gehören nicht nur Segovia und dann Williams und Bream. Dieser Kaste gehören jetzt auch schon Manuel Barrueco und seine Generation an. Die Rige um Dervoed hat (natürlich) all die hinter sich gelassen, bei denen noch von spieltechnischer Perfektion geredet wurde oder von stilistischer Souveränität. Kein Thema mehr! Bei ihm dreht sich alles nur noch um persönliche, ganz eigene Präferenzen … und viele davon goutiere ich oder kann sie sogar teilen!