Vor gut einem Jahr habe ich lernen dürfen, was Wiener Lautenkonzerte sind. Damals habe ich eine CD von „Ars Antiqua Austria“ besprochen, die eben solche Musiken enthielt. Komponiert waren sie von Wenzel Ludwig von Radolt (1667—1716):
Wenzel Ludwig Edler von Radolt (1667—1716), Viennese Lute Concertos, Ars Antiqua Austria, Gunnar Letzbor, Hubert Hoffmann, Laute | Challenge Classics [challengerecords.com] CC72291, Besprechung in Gitarre & Laute-Online XXX/2008/Nº 1, S. 42-43
Ich schrieb damals: „Die wissenschaftliche Leistung, die hinter dieser „Entdeckung“ steht, ist bemerkenswert, das künstlerische Ergebnis ist sensationell!“ An diesem Urteil will ich nicht rütteln … aber ich will von Neuigkeiten berichten, die sich mir zum Thema „Wiener Lautenkonzerte“ eröffnet haben … und von einer Unterlassungssünde, die ich mir vorwerfe.
Zuerst die Neuigkeiten: Die erste hat Lutz Kirchhof zusammen mit seinen Mitspielern vom Ensemble „Liuto Concertato“ ans Tageslicht gebracht:
Musical Miracles
Ferdinand Ignaz Hinterleithner: Concertos for Lute
Trio Liuto Concertato: Lutz Kirchhof, Martina Kirchhof, Judith Sartor
Aufgenommen im Juni 2008, erschienen 2009
deutsche Harmonia mundi/SONY Music [sonymusic.de] 88697449392
… „Man kann Lutz Kirchhof nur gratulieren für diese Entdeckung und danken für eine CD mit höchst unterhaltsamer Musik“ …
PPPPP
Von Ferdinand Ignaz Hinterleithner (1659—1710) ist ein einziger Notendruck erhalten: „Lauthen Concert mit Violin, Bass: und Lauthen“. Erschienen ist er in Wien im Jahr 1699 und besteht aus drei Stimmheften. RISM [H 5635] weist ein einziges erhaltenes Exemplar für die Bayerische Staatsbibliothek in München nach, Adolf Koczirz kannte 1918 eines in der Bibliothek des Benediktinerstiftes in Raigern in Mähren, heute Rajhrad, Tschechische Republik (s. DTÖ XXV/2, Bd. 50: Österreichische Lautenmusik zwischen 1650 und 1720, Wien 1918): „Das Lauten-Concert besteht aus einer Serie von 10 Partien für Laute mit Violin und Baß und einem Praeludium für Laute allein.“ Außer der österreichischen Denkmäler-Ausgabe von 1918 scheint es keinen Versuch gegeben haben, die Musik Hinterleithners zu aktualisieren – praktische Neuausgaben liegen jedenfalls nicht vor.
Ob das Exemplar, das zu Koczirz’ Zeiten noch in Raigern aufbewahrt wurde, das gleiche ist, das sich heute im Besitz der BNB in München befindet, kann ich nicht sagen. Es handelt sich bei der Quelle um eine Ausgabe, die der Komponist zur Vermählung des späteren Kaisers Joseph I. (1678—1711) mit Amalia Wilhemine von Braunschweig-Calenberg geschrieben und selbst „in Kupfer gebracht“ hat. Sie ist also gedruckt, allerdings nicht unbedingt in einer für den Handel vorgesehenen Auflage. Dass nur ein einziges Exemplar erhalten ist, bleibt vorstellbar … obwohl Ernst Pohlmann („Laute, Theorbe, Chitarrone“, Bremen 19825) neben dem Münchener Exemplar noch eines in Bratislava erwähnt. Nähere Forschungen bezüglich der Quellenlage sind erforderlich.
Das vollständigste Exemplar der Druckausgabe der Konzerte von Wenzel Ludwig von Radolt befand sich 1918 ebenfalls in der Bibliothek des Benediktinerstiftes in Raigern, die im RISM-Sigelverzeichnis unter „CZ:R“ geführt wird: „Rajhrad (=Raigern), Knihovna benediktinského kláštera“ mit dem Hinweis, die Musikalien befänden sich im „Moravské zemské muzeum, oddìlení dìjin hudby“ in Brno (Brünn). Diesen Fundort verzeichnet auch das Quellenlexikon RISM … allerdings nicht für die Ausgabe Hinterleithner (s.o.). Für deren Aufnahme ist die Druckausgabe der Bibliothek in München verwendet worden … hat mir Lutz Kirchhof mitgeteilt.
Die schon besprochene CD der „Ars Antiqua Austria“ (Radolt) heißt „Viennese Lute Concertos“ und das etabliert den Terminus „Wiener Lautenkonzert“ als eine Art musikalischen Genus – eben das unterstreichen jetzt auch Lutz Kirchhof und seine musikalischen Gefährten. Natürlich sind auch die Suiten von Hinterleithner keine Konzerte im modernen Sinn, keine, die sich als Beschreibung von Streitgesprächen zwischen Soloinstrument und Orchester verstehen ließen. Statt eines „concertare“ hören wir eher eine „confluentia“, den Zusammenfluss mehrerer instrumentaler Stimmen – nicht einmal mit einem klanglichen Übergewicht der Laute, aber auch schon weit entfernt von einem Generalbass-orientierten Satz, in dem die Laute als Basis fungiert hätte. Dies ist Kammermusik mit obligaten Instrumenten, und da spielt die Laute nur insofern eine herausgehobene Rolle, als man mit ihr ebenso Einzelstimmen wie akkordisch spielen kann … und genau das könnte darauf hindeuten bzw. es zumindest möglich erscheinen lassen, dass die Suiten ursprünglich für Laute solo geschrieben worden sind und dass der Komponist die anderen Stimmen erst hinterher dazukomponiert hat.
Im Originaldruck sind die Konzerte für Violine, Laute und Bass vorgesehen – das Trio Liuto Concertato besetzt alle Streicherstimmen mit Gamben, auch die Violinstimme, die ein Pardessus de Viole ausfüllt: „Diese im Vergleich zu Violine und Violoncello in aristokratischen und humanistisch gebildeten Kreisen als feiner empfundenen Instrumente sind sehr obertonreich und sprechen den Geist auf subtile Weise an.“ (Booklet) Tatsächlich klingt der Pardessus deutlich zarter, fragiler und weit weniger ein Primat behauptend als die Violine, wie wir sie von Radolt/Letzbor kennen. Kirchhofs Instrumentenwahl unterstreicht damit das kammermusikalische Ideal und weniger das konzertante, das man durchaus auch vertreten könnte. Aber die Gamben bewahren das klangliche Gleichgewicht zwischen den Stimmen auf sehr sensible Art – auch zur prima inter pares, zur Laute, die das musikalische Geschehen letztlich doch bestimmt.
Das Ensemble rund um Lutz Kirchhof liefert ein perfekt ausgeleuchtetes Bild. Die Laute wirkt höchst elegant und standesgemäß; die eigentlich dominierende Violine, hier substituiert durch einen Pardessus de Viole, piepst hie und dort und ist doch edel und diskret; das Fundament in Form einer Bass-Gambe (so ist die „Standard-Besetzung) gibt Halt ohne altväterlich steif zu wirken. Und die Musik: Ferdinand Ignaz Hinterleithner war ein kreativer Komponist, der zwischen zwei Fronten stand – einer abziehender und einer nach vorne preschenden Front musikalischer Traditionalisten und Revolutionäre. Sein von Natur aus synkopierter französischer Lautenstil war nicht mehr der Dernier Cri der feinen Welt, und doch war er im Vergleich mit den eher konservativen Musiken, wie sie in Deutschland und Österreich vorherrschten, „progressiv“. Dazu wob Hinterleither sein Lautenspiel in italienisch anmutende, elegante Melodien ein und auch damit präsentiert er für seine Zeit sehr fortschrittliche Lautenmusik.
Man kann Lutz Kirchhof nur gratulieren für diese Entdeckung und danken für eine CD mit höchst unterhaltsamer Musik.
Einen neuen Namen, was die „Wiener Lautenkonzerte“ angeht, bringt das Ensemble „Ars Antiqua Austria“ ins Spiel: Karl Kohaut.
Karl Kohaut: Haydn’s lute player
Ars Antiqua Austria: Gunnar Letzbor; Hubert Hoffmann, lute; Jan Krigovsky, Viennese double bass
Aufgenommen zwischen dem 26. und 29. März 2008, erschienen 2009
Challenge Classics [challengerecords.com], in Deutschland bei Sunny-Moon [sunny-moon.com] CC72323
… „Eine CD mit Raritäten“ …
PPPP
Karl Kohaut (1726—1784) war der letzte Lautenist in Diensten der Habsburger. Joseph II. (1741 [1765]—1790) war nicht nur ein modern denkender, von den Ideen der Aufklärung begeisterter Monarch, er war auch einer der letzten großer Kunstförderer und Mäzene des dem Ende zugehenden feudalistischen Gesellschaftssystems.
Kohaut kam noch vor der Inthronisation Josephs in kaiserliche Dienste, 1758 nämlich. Er wurde als Verwaltungsbeamter angestellt. 1778 wurde er dann Hofsekretär Josephs II, der ihn auch als Musiker geschätzt hat. Kohaut war schon über fünfzig, aber er konnte seine musikalischen Begabungen noch durchaus ins Spiel bringen. Mit Baron Gottfried van Swieten (1733—1803), dem niederländischen Diplomaten, der wesentliche Impulse auf das höfische Musikleben gab, stand er in Kontakt. Van Swieten war beispielsweise derjenige, der bei Wolfgang Amadeus Mozart Neuinstrumentierungen verschiedener Werke von Händel in Auftrag gab und dem wir auf diese Weise „das einzige Lautenwerk Mozarts“ verdanken, den obligaten Lautenpart der „Ode for St. Cecilia’s Day“, den Mozart nicht nur penibel beibehalten, sondern den er sogar um eine Kadenz erweitert hat. Aufgeführt wurde diese Bearbeitung 1790 (KV 592), also nach Kohauts Tod … immerhin muss es da noch einen Lautenisten gegeben haben, der den Part übernehmen konnte.
Die Lautenkonzerte von Kohaut sind stilistisch schon weit von denen von Hinterleithner und von Radolt entfernt, und das ist nicht weiter verwunderlich für einer Zeit, als sich Musik und Komposition in rasanter Geschwindigkeit und sehr grundsätzlich veränderten. Man bedenke, dass 1726, als Kohaut geboren wurde, Bach und Händel noch gelebt und gearbeitet haben – und dass in den 1770er Jahren, da sind Kohauts Lautenkonzerte entstanden, Mozart (1756—1791) auf dem Weg nach Wien war. 1782 ist „Die Entführung aus dem Serail“ uraufgeführt worden! Es war eine Zeit der Revolutionen!
Die Lautenkonzerte von Karl Kohaut waren zwar auch noch für kleine, kammermusikalische Besetzungen geschrieben, allerdings war das „klassische Solokonzert“ bereits sehr präsent. Die traditionelle Suitenfom war passé, gespielt und experimentiert wurde mit Material, das als „klassische Sonate“, für fast hundert Jahre die Komponisten beschäftigen sollte.
Dem Ensemble „Ars Antiqua Austria“ passen die Lautenkonzerte von Kohaut scheinbar besser ins musikalische Konzept als die des Herren von Radolt … und auch deren Aufnahme habe ich schon als Entdeckung gefeiert! Aber hier ist Gunnar Letzbor mehr Freiheit gegeben, sein Virtuosentum und seine musikantische Kraft auszuspielen. Diese Musik wirkt orchestraler, obwohl sie kammermusikalisch besetzt ist – das gilt nicht nur für das Lautenkonzert, sondern in mindestens gleichem Maße für das „Concerto per Contrabasso solo, 4 Violini & Basso“, dessen Solopart von Jan Krigovsky gespielt wird. Ein fünfsaitiger „Wiener Kontrabass“ ist es, den er spielt – das Instrument, von dem Leopold Mozart 1769 schrieb, er habe auf ihm „Concerte, Trio, Solo etc. ungemein schön vortragen gehört“.
Eine CD mit Raritäten liegt uns hier vor: Ein Trio (per il Liuto, Violino obligato & Basso) von Joseph Haydn (1732—1809), dessen Echtheit allerdings stark bezweifelt wird; das erste Solokonzert aller Zeiten für Kontrabass und schließlich Konzerte für ein Instrument, dessen Schicksal bereits besiegelt war: die Laute. Sie wurde hie und dort noch gespielt, verschwand aber für über hundert Jahre aus dem musikalischen Geschehen. Zur Zeit von Karl Kohaut , war die Laute Zeugin einer Revolution, die alle gesellschaftlichen Aspekte betraf – auch die Musik, an deren Wandlung uns das Ensemble „Ars Antiqua Austria“ teilhaben lässt.
Hierher passt nun mein Geständnis: Schon vorher, im Jahr 2005, war eine CD mit Konzerten von Karl Kohaut erschienen … und ich habe versäumt, sie Ihnen vorzustellen:
Karl Kohaut: Lute Concertos
„Galanterie“: John Schneiderman, Lute; Elizabeth Blumenstock, Violine; Lisa Weiss, Violine; William Skeen, Violoncello
Aufgenommen im Februar 2005, erschienen 2005
Hänssler Profil PH05018, in Deutschland bei Naxos [Naxos.com]
… „Gute Unterhaltung!“ …
PPP
Der Chef des Ensembles „Galanterie“ ist der Lautenist John Schneiderman – Gunnar Letzbor ist bekanntlich Geiger. Das könnte zu falschen Vermutungen Anlass geben, denen nämlich, dass bei der „Galanterie“-Aufnahme die Laute so weit wie möglich in den Vordergrund gepusht worden ist. Dies ist, wie gesagt, eine falsche Vermutung!
Die Lautenkonzerte von Karl Kohaut in der Aufnahme mit John Schneiderman und seinem Ensemble halten Überraschungen bereit. Die zum Beispiel, dass die Laute, wenn sie nicht gerade „solistisch“ zu tun hat, oft brave Begleitungen spielt, die sich in Akkordbrechungen erschöpfen, wie wir sie auch von Mauro Giuliani kennen … der bekanntlich erst später, 1806 nämlich, nach Wien kam.
Was mich auch erstaunt hat ist, dass die Geigen gelegentlich einen hinreißenden Schmäh hervorbringen, der unverkennbar Wienerisch ist. Dass es gerade die kalifornischen Musiker sind und nicht die Wiener, die den Zuhörer nach Grinzing entführen – das ist die Überraschung! Dass die Besetzung mit zwei Geigen und Bass zu Zwiegesprächen mit viel Vibrato einladen, kann man sich vorstellen und auch, dass sich daraus ein lokaler Stil entwickelt, wenn an diesem Ort diese Besetzung besonders bevorzugt wird. Aber der damals im hohen Norden eher verschmähte „provinzielle Dialekt“ der Wiener, der auch volksmusikalische Elemente nicht missachtete, formte schließlich den Nährboden für das, was später Wiener Klassik“ genannt wurde.
Das Ensemble „Galanterie“ geht gemäßigter mit dieser Musik des 18. Jahrhunderts um, als die Wiener um Gunnar Letzbor: irgendwie braver und kompromissbereiter. Aber vielleicht kommen sie ihr damit auch ein wenig näher. Hubert Hoffmann, der Lautenist von „Ars Antiqua Austria“ schreibt, ihr Ziel sei gewesen, „hoffentlich lebhaft kontrovers diskutierte Interpretationen“ abzuliefern – das Ensemble „Galanterie“ begnügt sich mit dem, was Musik damals sein sollte: Gute Unterhaltung!
Gaultier: Apollon Orateur
Anthony Bailes, lute
Werke von Denis und Ennemond Gaultier
Aufgenommen im Juni 2008, erschienen 2009
Ramée Records [ramee.org] RAM 0904, in Deutschland bei CODAEX [Codaex.com]
… „Reden, die von einer korrekten Grammatik leben aber weniger von Raffinesse, sprühendem Esprit und Charisma“ …
PPPP
Gaultiers gab es in der französischen Lautenmusik mehrere: Ennemond Gaultier (ca. 1575—1651) wurde „le Vieux Gaultier“ genannt, der alte Gaultier. Er hat in Paris im Dienst von Maria de’ Medici gestanden, später war er in London, wo man ihn am Hof als Lautenspieler schätzte. 1631 oder 1632 zog er wieder in die Dauphiné, die Landschaft im Südosten Frankreichs, wo er herstammte. Denis Gaultier (vermutlich 1603—1672) lebte sein Leben lang als „bourgeois de Paris“ in seiner Geburtsstadt. Hofmusiker ist er nie geworden, wohl aber wird er als Gelegenheitsmusiker – auch in royaler Umgebung – erwähnt. Ein dritter Lautenist namens Gaultier (geboren um 1600) ist bekannt, Jacques Gaultier, genannt „Gautier d’Angleterre“ oder „Gaultier anglais“. Er muss ein streitbarer Mann gewesen sein, denn nach einem Duell hat er 1617 Frankreich verlassen, um sich in London niederzulassen. Dort soll er als Musiker schließlich auch Zugang zu höfischen Kreisen gehabt haben. Einige wenige Lautenstücke von Jacques Gaultier sind in Sammelhandschriften überliefert. Ob Jacques mit Ennemond und Denis, die Vettern waren, verwandt gewesen ist, konnte bisher weder nachgewiesen noch ausgeschlossen werden.
Eine der prächtigsten Handschriften mit Lautenmusik, die je angefertigt worden sind, befindet sich im Berliner Kupferstichkabinett (Signatur: 78 c 12) und ist genannt: „La Rhétorique des Dieux“. Der Titel der vorliegenden CD ist abgeleitet aus einem Kommentar in dieser Handschrift: „Apollon [!] reuestu de l’humanité de Gaultier desploye icy tous les tresors de son bien dire & par la forçe de ses charmes fait que ses auditeurs deuiennent oreilles“ [Apollon, gekleidet in die menschliche Gestalt von Gaultier, entfaltet hier alle Schätze seiner Redekunst und zieht mit seiner magischen Kraft alle Zuhörer in seinen Bann]. Der Komponist Gaultier, der hier erwähnt und der mit Apollon verglichen wird, ist Denis Gaultier. Von ihm stammen alle Lautenstücke, die es auf vorliegender CD zu hören gibt … das heißt fast alle Stücke, denn zwei Chaconnes von Ennemond hat Anthony Baines in das Programm aufgenommen, weil sich in dem Repertoire von Denis „kein wirkliches Stück dieses Genres“ befindet. Und Chaconnes gehören schließlich in das Repertoire der Zeit und auch in das von Denis Gaultier – nur in der „Rhétorique des Dieux“ ist keine enthalten.
Laute und Lautenspiel haben sich zu Anfang des 17. Jahrhunderts stark verändert. Nicht nur ist mit neuen Stimmungen experimentiert worden – sie haben auch Veränderungen am Instrument nach sich gezogen und neue Spieltechniken. Dabei hat natürlich eine neue französische Musik die neue instrumentale Ausstattung erfordert – nicht umgekehrt! Die neue französische Musik war groß dimensioniert, weit und majestätisch; sie war weit entfernt von schmalbrüstig-pietistischer Frömmelei, sie wirkte lebensoffen und royal bis imperial … und das muss natürlich bei Interpretationen fast 300 Jahre später fühlbar sein.
Anthony Bailes präsentiert diese Musik – aber er zelebriert sie nicht. Er skizziert die royale Umgebung – aber er lässt sie uns nicht riechen, fühlen und verstehen. Herrschaftlichkeit, Pomp und Dekadenz – das sind die Faktoren, welche die Geschehnisse von 1789 und das Ende der Feudalherrschaft hervorbringen sollten. Aber in den Interpretationen von Tony Bailes ist die üppige Pracht eher von einem schmälernden Mäntelchen umgeben. So werden wir Zeugen von Reden, die von einer korrekten Grammatik leben aber weniger von Raffinesse, sprühendem Esprit und Charisma.
Mit dem, was der Interpret in seiner Bescheidenheit weniger durchblicken lässt, protzen allerdings die Grafik-Designer der CD: mit Pomp and circumstance. Barocke Pracht!
Ein Wort muss noch gesagt werden zu dem Instrument, auf dem Anthony Bailes diese CD aufgenommen hat. Es ist ein Instrument von Gregori Ferdinand Wenger aus dem Jahr 1722. Wenger ist in Wien geboren und hat später in Augsburg gelebt und selbständig gearbeitet. Als Geigen- und Lautenmacher hat er einiges Renommee besessen.
Selten stehen Lautenisten für Aufnahmen oder sogar Konzerte originale Instrumente zur Verfügung, an denen so wenig repariert oder saniert werden musste: „Obwohl sie [die Laute] über die Jahre hinweg einige Beschädigungen und nicht fachgerechte Restaurierungen erleiden musste, ist die originale Struktur größtenteils intakt geblieben, was die Restaurationsarbeit vereinfachte.“ (Anthony Bailes im Begleittext) Wir können heute den vollkommenen, runden und geschlossenen Klang des Instruments bewundern und auch ehrfürchtig die Tatsache auf uns einwirken lassen, dass es sich dabei um eine „originale“ Laute handelt … ob uns das aber einen Eindruck davon gewinnen lässt, wie „damals“ Lautenmusik geklungen hat, kann naturgemäß niemand beantworten.
Eduardo Egüez: L’Infidèle
Lute Works by Sylvius [!] Leopold Weiss
Aufgenommen im Juni 2005, erschienen 2009
MA Records [marecordings.com] MO78A
… „Er überzeugt sein Publikum von dem, was er tut. Mich auch!“ …
PPP
Die Suite „L’Infidèle“ von Silvius Leopold Weiss hat Eugen Dombois 1971/1972 als Erster für die Schallplatte aufgenommen (LP SEON 30385). Überhaupt waren seine beiden Platten aus der damals neuen Reihe „Die Barocklaute“ die ersten, die auf dem Instrument angeboten wurden. Das Erscheinen der ersten war eine Sensation – überhaupt genoss die neue, von Wolf Erichson geleitete Plattenreihe internationale Beachtung. Eine dritte LP in der Reihe „Die Barocklaute“ erschien ein paar Jahre später, sie war von meinem Lehrer Michael Schäffer eingespielt worden und enthielt französische Lautenmusik – die letzte Produktion des Musikers vor seinem viel zu frühen Tod am 7. September 1978.
„L’Infidèle“ ist seitdem mehr als einmal aufgenommen und auch in Transkription für Gitarre herausgegeben worden. Sie war die erste der Suiten von Weiss, die man in der Gitarrenwelt mit Namen kannte. Außerdem waren die Tombeaux bekannt und in mehreren Transkriptionen erhältlich. Bei Egüez gibt es das Tombeau auf den Tod des Grafen Logy zu hören und das gehört für Gitarristen schon lange zum Standard-Repertoire.
Natürlich hat sich seit jenen Pioniertagen von Eugen Dombois und Michael Schäffer viel verändert, was das Lautenspiel angeht. Immer wieder hat es zwischendurch auch Gitarristen gegeben, die meinten, man könne beides, Gitarre und Laute überzeugend konzertant spielen. Unter ihnen war Narciso Yepes, der mit seinen grotesken Bach-Platten bei der Deutschen Grammophon den nicht zu widerlegenden Gegenbeweis angetreten hat: Es geht nicht! Aber die Musiker, die sich ernsthaft um die Barocklaute und ihre Spielweise bemüht haben, haben das Lautenspiel zu neuen Höhen gebracht … und das fällt auch auf, wenn man neuere CDs mit der erwähnten Dombois-Aufnahme von 1970/1971 vergleicht.
Eduardo Egüez zum Beispiel gehört schon der „Enkel-Generation“ der Schüler von Dombois und Schäffer an … er hat bei Hopkinson Smith in Basel studiert und der war Schüler von Eugen Dombois. Nicht nur die Gewandtheit im Umgang mit dem großen, vielsaitigen und – zugegeben – unhandlichen Instrument Barocklaute hat sich in den fast vierzig Jahren seit Erscheinen der Platte von Dombois gewandelt, es ist vor allem die Haltung der Interpreten zum Thema „Aufführungspraxis“. Wenn damals noch jeder Ton und jedes Ein- und Ausatmen auf „Authentizität“ überprüft wurde, gehen heute die Musiker viel weniger verkniffen mit dem musikalischen Material um. Sie verstehen sich jetzt als Musiker und nicht mehr als Hüter des Prinzips, hier sei alles verboten, was nicht ausdrückt erlaubt ist.
Und doch: Natürlich wurden für die neue, historisch ausgerichtete Interpretationsweise erst Forschungen angestellt … deren Ergebnisse man danach schnell verinnerlichen und wieder vergessen musste. Jetzt hört man im Vergleich einen leichteren, fließenden, improvisierten Umgang mit Verzierungen und Virtuosem, das Kokettieren mit Klang und das Aufbauen agogischer Spannungen und deren Auflösung. Und man hört den großen, majestätischen Klang der Barocklaute, der eigentlich diese Musik a priori für eine Verwendung auf der Gitarre verbietet … eigentlich!
Eduardo Egüez unterscheidet sich von seinen Zeitgenossen als ein Musiker, der, in Wiederholungen vornehmlich, florider als andere mit Umspielungen und Diminutionen umgeht. Er leugnet auch keineswegs seine musikalische Herkunft, die Gitarre. Als Differenzierungsvehikel ist ihm das „Arpeggieren von Zweiklängen“ zum Beispiel durchaus geläufig. Barocke Üppigkeit und Pracht entfaltet er … und zwar vielleicht manchmal auf eine etwas zu französische Art. Aber das ist es ja, was im 18. Jahrhundert wie heute die Geister bewegt hat und bewegt! Auch muss man sich an sein doch hie und dort etwas selbstverliebtes Auszieren des gegebenen Materials gewöhnen – nicht, weil es vielleicht nicht stilgerecht wäre, sondern, na ja, weil man sich daran erst gewöhnen muss.
Eduardo Egüez jedenfalls ist ein Musiker, der seinem Publikum viel bietet: ein rundes Programm mit barocken Glanzstücken, virtuoses Beiwerk und Spielfreude und schließlich Charisma. Er überzeugt sein Publikum von dem, was er tut. Mich auch!
Silvius Leopold Weiss: Lute Music II
Jakob Lindberg
Aufgenommen im November 2007, erschienen 2009
BIS [www.BIS.SE] BIS-CD 1534, in Deutschland bei Klassik-Center Kassel [ClassicDisc.de]
… „in Fluss geraten Kontemplation“ …
PPPPP
Viel nordischer geht Jakob Lindberg mit seinem Weiss um. Viel vorsichtiger – nicht unsicher oder „zimperlich“! In der Bewertung dieser Unterschiede geht es längst nicht mehr um die Frage, ob Erkenntnisse aufführungspraktischer Art beachtet werden oder nicht -- wir reden nicht von Korrektheit, wir reden allenfalls von Schicklichkeit und von Geschmack. Und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als Weiss, der berühmteste Lautenist seiner Zeit, diese Musik komponiert hat, gab es auch schon Diskussionen darüber, ob der eine seiner Zunft zu üppig verzierte und umspielte und der andere vielleicht zu geradlinig spielte. Baron meinte 1727 im Kapitel „Von denen vornehmsten Manieren auf der Lauten, ihrer Bezeichnung, Natur und worauf es vornehmlich heut zu Tage ankommt“ (Untersuchung, S. 165): „Spielt oder lässt man sich alleine hören, so kann man vornehmlich bei langsamen Sachen sich schon etwas länger aufhalten und mehr Manieren machen, doch muß man nicht excediren, weil auch allzu viele Manieren, zumal sie nicht am rechten Ort angebracht, die Modulation und Melodie verstümmeln.“ Jakob Lindberg „excedirt“ keineswegs. Im Gegenteil, er ist sehr zurückhaltend im Gebrauch von Manieren – auch bei langsamen Sachen. Seine Sarabanden sind wahre Ruhepole … und seine schnellen Sätze (beide hier eingespielten Sonaten enden mit einem „Presto“), sind keine virtuosen Schaustücke, sondern in Fluss geratene Kontemplation.
Bäte man mich, das Spiel Jakob Lindbergs mit ein paar Worten zu charakterisieren, würde ich meinen Eindruck vermutlich so beschreiben: schnörkellos und geradlinig; elegant – nicht chic; sachdienlich – nicht akademisch. Ich würde vielleicht – aber das ist nichts als eine Randbemerkung und mein ganz persönlicher Gusto – etwas ostensiver phrasieren, etwas deutlicher machen, wir diese wunderbare Musik strukturiert ist.
Jakob Lindberg hat vor ein paar Jahren eine erste Weiss-CD herausgegeben, auch bei BIS und zwar unter der Nummer 1524. Damals stand aber offenbar nicht fest, dass sie der Anfang einer Weiss-Reihe werden sollte. Sie hieß auch nicht analog zur neuen CD „Silvius Leopold Weiss: Lute Music I“ und sie sah anders aus. Jetzt also gibt es doch mehr als diese eine Aufnahme … und darüber können wir glücklich sein!
Flying Horse: Music from the ML Lutebook
Elizabeth Kenny, Laute
Werke von Dowland, Holborne, Johnson, Perrichon, Ballard, und anderen
Aufgenommen im Dezember 1008, erschienen 2009
Hyperion [Hyperion-Records.co.uk] CD67776, in Deutschland bei Codaex [Codaex.com]
… „Es ist eine Freude, ihren Improvisationen zuzuhören“ …
PPPP
Ein ganz anderes Thema: Renaissance-Laute. Auf einer solchen hat Julian Bream 1955 seine erste Platte aufgenommen (DECCA 5243) und damit vielen Gitarristen vorgegaukelt, es ginge. Er nämlich spielte beides: Renaissance-Laute und Gitarre – sogar in ein und demselben Konzert. Laute vor der Pause – Gitarre danach.
Aber auch hier: Es geht nicht! Bream hat eine Laute gespielt, die seinen Bedürfnissen als Gitarrist angepasst war. Sie hatte eine viel dickere Decke als die historischen Lauten (um die höhere Saitenspannung aushalten zu können) und sie hatte die ersten zwei bis drei Chöre als Einzelsaiten aufgezogen und nicht chörig. Das erlaubte ihm, in seiner Gitarren-Spieltechnik Laute zu spielen und zwar mit Fingernägeln. Es ging, er konnte die Töne erzeugen, die aufgeschrieben waren, aber die Leichtigkeit, die das Lautenspiel ausmacht, die federne Leichtigkeit, die hat er nie erzeugen können. Julian Bream war ein Ausnahmemusiker. Er konnte jeden mitreißen, wenn er Gitarre und auch wenn er Laute spielte -- auch mich! Aber erst Musiker wie Paul O’Dette und andere haben mir gezeigt, wie die Musik von John Dowland oder Robert Johnson wirken kann. Erst sie haben einem diese wunderbar virtuosen und leicht schwingenden Galliarden nahe gebracht. Julian Bream und seine Epigonen haben mit dem Gitarren-Wechselschlag von Zeigefinger und Mittelfinger auf der Laute gespielt und das ergab ein völlig anders gewichtetes Spiel, völlig andere Akzente und Schwerpunkte, als die Lautenisten vor über vierhundert Jahren sie musikalisch gesetzt hatten.
Wie nun spielt Elizabeth Kenny? Sie ist mit namhaften Ensembles aufgetreten und hat auch an der Hochschule der Künste in Berlin und an der Royal Academy of Music in London unterrichtet. Wir kennen sie hier wegen einer CD mit englischen Lautenliedern, die sie zusammen mit Robin Blaze aufgenommen hat (Hyperion 55249). Studiert hat sie übrigens bei Nigel North und Robert Spencer … so viel zur Interpretin.
Das Repertoire, das Elizabeth Kenny präsentiert, ist erfrischend abwechslungsreich und erschöpft sich keineswegs in jenen Dowland/Johnson/Cutting-Klassikern die man gemeinhin angeboten bekommt, wenn es um englische Lautenmusik geht. Die Stücke stammen ausnahmslos aus einer Handschrift der British Library in London mit der Signatur Add. MS 38539. Auf deren Umschlag sind die Initialen „ML“ eingeprägt, hinter denen man ursprünglich Matthew Locke (1621—1677) vermutet hat … aber es stellte sich heraus, dass das Manuskript älter ist. Es wurde umgetauft in „Sturt Lute Book“, weil man nun annahm, ein Sturt, Lautenist in Königlichen Diensten Anfang des 17. Jahrhunderts, sei ihr Kompilator gewesen. Wie die Initialen „ML“ auf einen Mann namens Sturt hinweisen können, bleibt mir, ganz nebenbei bemerkt, unerklärlich! Robert Spencer ist dann in seiner Faksimile-Ausgabe der Handschrift (1985 bei Boethius Press) zu dem Namen „ML Lutebook“ zurückgekehrt.
John Dowland (1563—1626) und Robert Johnson (ca. 1583—1633) sind die Komponistennamen, die in der Handschrift und folglich auch auf dem CD-Cover am häufigsten vorkommen, aber man sieht auch Julien Perrichon (1566—1600) und Robert Ballard (ca. 1575—nach 1649), zwei französische Lautenisten, und eine Reihe anonymer Stücke, von denen am Schluss „The Flying Horse“ steht, das Stück, das der CD den Namen gegeben hat. Es ist ein lebhaftes Variationsstück auf einen vorgegebenen Bass, das der Interpretin erlaubt, tief in ihre Trickkiste zu greifen. Es ist eine Freude, ihren Improvisationen zuzuhören, wie es überhaupt vergnügt, ihr zu lauschen. Elizabeth Kenny liebt das, wovon die englische Lautenmusik ohnehin lebt: Divisions. Die meisten Stücke sind so aufgebaut, dass ein Thema vorgestellt wird und dann bei der Wiederholung (in Formen wie a/a’/b/b’ zum Beispiel) Divisions dazugespielt werden, Diminutionen. Da dieses kompositorische Prinzip das Repertoire beherrscht, kann man es auch als eine Art Aufforderung verstehen. Die Lautenisten um 1600 haben nicht unbedingt festgelegte Stücke geschrieben, sondern Themen und die Divisions dazu improvisiert, was man übrigens auch an den Differenzen in Konkordanzen von jeweils gleichen Stücken sieht. Hier, in den Divisions, unterscheiden sie sich am ehesten, weil Zuhörer die meisten Lautenbücher zusammengetragen haben, Zuhörer, Musiklehrer und Amateure. Sie haben Divisions aufgeschrieben … für ihre Schüler vielleicht oder weil sie sie gerade so gehört hatten. Aber jeder kreative Lautenist hat seine eigenen Diminutionen gespielt und geschrieben – oder mindestens hat er die vorgegebenen variiert.
Elizabeth Kenny versteht die Stücke genau so! Es ist mehr als ein Verzieren, das sie den Lautenstücken angedeihen lässt. Sie improvisiert ihre eigenen Divisions, erweitert die in der Handschrift aufgeschriebenen. Bei anderen Stücken, bei „Mr. Holborn’s Last Will and Testament“ zum Beispiel, spielt sie die Tabulatur so, wie sie geschrieben ist. Nicht bei allen Stücke sind im 17. Jahrhundert Divisions gespielt worden. Hier verbreitet sie eine sehr introvertierte Stimmung, Trauer eben und Andenken an Anthony Holborne – wie bei einer Testamentseröffnung. Ich empfehle übrigens im Zusammenhang mit englischer Lautenmusik das Buch „Studien zur englischen Lautenpraxis im elisabethanischen Zeitalter“ von Wilburn Wendell Newcomb (Kassel u.a. 1968, Bärenreiter), dessen Aussagen immer noch Bestand haben.
Die CD Flying Horse ist eine Entdeckung- Die Musikerin geht nicht kniefällig an die Musik heran, sie behandelt sie als das, was sie vor über vierhundert Jahren schon gewesen ist – als virtuos-spielerische Unterhaltung.
The Golden Age of the
Lute in Bohemia
Rudolf Mìøinský, Lauten
Werke verschiedener Komponisten aus böhmischen Handschriften
Aufgenommen im Juli 1994, erschienen 1995. In Deutschland vertrieben seit 2009
ARTA F1 0057-2, in Deutschland bei Klassik-Center Kassel [ClassicDisc.de]
… „Es gibt einiges zu entdecken auf dieser CD“ …
PPP
Rudolf Mìøinský spielt auf dieser CD, die vor nunmehr über 15 Jahren produziert worden ist, Musik, die mit Böhmen zu tun hat – nicht böhmische Musik, sondern Stücke, die in irgendeinem Zusammenhang zu Böhmen standen und stehen. Einige hat der Interpret zum Beispiel in einer Handschrift des Nationalmuseum in Prag gefunden, bei anderen hat ihr Komponist, Pietro Paolo Melli, in Diensten der Habsburger Kaiser Matthias (1557/1612—1619) und Ferdinand II. (1578/1619—1637) gestanden und ist somit häufiger in Böhmen gewesen. Das ist nachvollziehbar, aber wie stand ein „Gothier” zu Böhmen – auch dieser Name taucht im Repertoire auf? Hier hat die Aristokratenfamilie Lobkowitz eine Rolle gespielt, deren Mitglieder nicht nur reich und mächtig waren, sondern auch die Künste gefördert haben. Die französische Lautenmusik des 17. Jahrhunderts gehörte zu ihren favorisierten Sammelobjekten, und so entstand auf Schloss Roudnice (Raudnitz) in Böhmen eine beträchtliche Sammlung an Tabulaturen, gedruckt und handschriftlich, mit Musik dieser Zeit. All diese Bestände werden heute in Prag aufgewahrt, und zwar in der Bibliothek mit dem ISBN-Sigel CZ-Pu = Národní knihovna (døíve Universitní knihovna). Christian Meyer („Sources Manuscrites en Tablature“, Volume III/2, Baden-Baden 1999) verzeichnet die Inhalte der Handschriften, die Drucke sind an entsprechender Stelle in RISM gelistet.
Warum ich diese Angaben über Quellen und Fundorte in diese Besprechung einbinde, werden Sie sich fragen. Sie stehen nicht im Booklet der CD – ich habe sie ermittelt, weil ich mir ein Bild machen wollte. Dort, im Booklet, hält man den Benutzer äußerst kurz, was Informationen angeht. Ich brauche keine Angaben über die bei der Aufnahme benutzten Mikrophone oder über die Firma, welche die verwendeten Saiten hergestellt hat … aber die Namen der Komponisten wären schon hilfreich gewesen. Gut, über Mikrophone und Saiten macht Rudolf Mìøinský keine Angaben, wohl aber die drei verwendeten Lauten, eine 10-chörige Renaissance-Laute nach Tieffenbrucker, eine 13-chörige Barocklaute nach Hoffmann und eine 16-chörige Theorbe nach M. Sellas. So vielfältig die dargebotenen Musiken sind, so vielgesichtig sind auch die Instrumente, die zu ihrer Ausführung notwendig sind.
Rudolf Mìøinský spielt ein paar musikalische Leckerbissen, die ich hier zum ersten Mal auf Konserve höre, einen „Rigodon“ zum Beispiel von Jacques de Saint Luc, von dem auch einige „Wiener Lautenkonzerte“ überliefert sind, über die – um hier den Bogen zu schließen – auch Adolf Koczirz in seinem DTÖ-Band von 1918 berichtet hat. Dann gibt es eine „Courante Carillon“ vom Grafen Losy, der in Lautenistenkreisen bisher viel zu wenig Beachtung gefunden hat, auf dessen Tod aber, wie eben schon berichtet, der große Silvius Leopold Weis ein Tombeau komponiert hat.
Es gibt einiges zu entdecken auf dieser CD – ein paar Hinweise auf jeden Fall, die man verfolgen sollte. Allein deshalb schon ist die vorliegende CD zu empfehlen. Aber auch wegen Rudolf Mìøinskýs Spiel, das zwar nicht von Risikobereitschaft strotzt und auch nicht von eitler, spielerischer Ausgelassenheit, gerade deshalb einen ersten, unverbauten Blick in Repertoiregefilde ermöglicht, die noch erforscht werden sollten.
Girolamo Kapsberger
Libri Terzo d’Intavolatura di Chitarrone
Diego Cantalupim Claudio Nuzzo
Aufgenommen im August 2002
MC-CREMONA [MVCremona.it] 002-009
… „Libro Terzo d’Intavolatura di Chitarrone“ von Girolamo Kapsberger als PDF. Sensationell!“ …
PPPPP
Kapsbergiana
Girolamo Kapsberger: Libro Terzo
Hille Perl, Lee Santana, Steve Player, Los Otros
Aufgenommen im April 2009
Sony [sonymusic.com] 88697527152
… „Hille Perl, Lee Santana und Steve Player wollen mitreden“ …
PPPP
Girolamo Kapsberger war Deutscher … mindestens wurde er schon in seinem ersten Lautenbuch, gedruckt in Rom im Jahr 1611, als „nobile alemanno“ tituliert. Er hatte deutsche Eltern und war ca. 1580 als Johann Hieronymus Kapsberger in Venedig [!] geboren. Nach 1604 oder 1605 lebte er in Rom. Berühmt wurde er durch Madrigale und Vilanellen, zwei Bühnenwerke, zahlreiche sakrale Gesangswerke … sowie wegen seiner vier Tabulaturbücher für Chitarrone und drei für Laute.
Das „Libro 3° d’intavolatura di chitarrone“ (Rom 1626), um das geht es hier, war seit 1928 im Besitz eines Raimondo Ambrosini in Italien und dieser Signore Ambrosini hielt es für sich, ließ niemanden hineinschauen oder es benutzen. Kein weiteres Exemplar tauchte auf (immerhin handelte es sich um ein gedrucktes Buch), keine Abschrift, kein Mikrofilm, keine Kopien – die Musik stand also weder für wissenschaftliche Zwecke noch für praktische Aufführungen zur Verfügung … bis die Bibliothek von Yale das Buch kaufte. Das war, so informiert Diego Cantalupe, auf einer Auktion am 7. Dezember 2001 bei Sotheby’s in London. Jetzt kann man die Ausgabe verwenden … und schon sind zwei Einspielungen auf dem Markt. Die erste davon ist schon im Sommer 2002 aufgenommen worden, also gerade mal ein halbes Jahr nach Wiederauftauchen der Quelle – die andere ist die brandaktuelle CD von Los Otros.
Zwei Aufnahmen ein- und desselben Repertoires liegen hier vor, die sich grundsätzlich unterscheiden. Notiert ist der Part für Chitarrone und Basso continuo – und darin liegt der erste Grund für die erwähnten Unterschiede. Bei der jüngeren Aufnahme spielen Hille Perl (Viola da Gamba und Lirone) und Steve Player (Chitarrone und Gitarre) Continuo, bei der von Diego Cantalupi Claudio Nuzzi (Chitarrone und Gitarre). Beide Aufnahmen liefern also Basso continuo, aber einen wirklichen Bass, der, wie das Hille Perl übernimmt, gelegentlich bis oft die Hosen anhat, gibt es auf der italienischen CD nicht. Das allein verschiebt den klanglichen Schwerpunkt.
Aber mehr noch: Los Otros geht scheinbar freier mit den gerade wiederentdeckten Pretiosen um, als es Diego Cantalupi tut … oder trifft dieser Satz es vielleicht besser: Cantalupi geht „korrekter“ mit dem Material um, als es Perl, Santana et. al. tun?
Hille Perl schreibt im Booklet: „Als Musiker fühlt man den Freiraum, den diese Werke bieten, Kapsbergers Einladung, dieses Material, welches uns durch die Jahrhunderte gereicht wird, zu erweitern und zu ergänzen. Manchmal rockt es oder schwebt (oder beides), verschlingt sich mit sich selbst oder überschlägt sich freudig, manchmal träumt es vor sich hin oder hängt nostalgischen Gedanken nach, genau wie wir.“
Tatsächlich sind Kapsbergers Toccaten, mit ihnen gehen die Musiker so generös um, ziemlich spekulative Musik, sehr experimentell und kapriziös – und das umfasst alle musikalischen Parameter. Harmonisch führen sie einen in unbekannte Sphären, melodisch lassen sie den Interpreten und seine Kundschaft manchmal rätselnd allein und auch rhythmisch bleiben ungeahnte Spielräume offen … Einladungen zu Improvisationen aller Art, mit denen Musiker des 17. Jahrhunderts nicht nur durch omnipräsente Ostinato-Kompositionen vertraut waren.
Aber was macht ein Interpret des 21. Jahrhunderts mit solchen Einladungen? Was zieht er an, wie bewegt er sich? Diego Cantalupi sieht die Sache akademisch. Er versucht, sich in seine Tischgenossen von 1626 hinein zu versetzen, ihre Sprache zu sprechen und zu verstehen und hie und dort ein paar Worte zu seiner eigenen Welt zu sagen. Hille Perl, Lee Santana und Steve Player wollen mitreden und zwar bewusst mit dem Akzent dessen, der knapp vierhundert Jahre später lebt. Beide Konversationen finden auf höchstem Niveau statt, in beiden dreht es sich um das gleiche Thema und beiden lauscht man gern.
Noch zwei Bemerkungen: 1. Diego Cantalupi war sich durchaus der Besetzungsmöglichkeiten, was den Basso continuo angeht, bewusst: „Wenn auch eine größere und unterschiedliche Besetzung im Basso continuo mehr Differenzierungsmöglichkeiten der Klangfarben ermöglicht hätte, so habe ich dennoch einen „sinfonischen“ Apparat im Continuo (wie es in neueren Aufnahmen durchaus Mode ist) [!] zu vermeiden versucht, denn das hätte die Umsetzung des improvisatorischen Charakters der vorliegenden Sammlung entschieden beeinträchtigt.“ und 2. Die italienische CD enthält als Bonus-Track ein Faksimile des kompletten Buches „Libro Terzo d’Intavolatura di Chitarrone“ von Girolamo Kapsberger als PDF. Sensationell!