Giuliani pop

Porqueddu Preludes CDCristiano Porqueddu: Novecento Guitar Preludes
Werke von Boris Vladimirovic Asafiev, Manuel Maria Ponce, Henk Badings, Henri Sauguet und Ferenc Farkas
Aufgenommen November 2010 bis März 2012, erschienen 2012
BRILLIANT CLASSICS 9292 (3 CD)
… sensationell! …

1722 bzw. 1742/1744 stellte Johann Sebastian Bach die beiden Teile seines Wohltemperierten Klaviers fertig: Præludia, und Fugen durch alle Tone und Semitonia, so wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend. Schon vorher hatte Bach Werkpaare, bestehend aus Präludien und Fugen, komponiert, seit dem Wohltemperierten Klavier schien sich daraus aber eine Art zyklischer Norm herauszubilden.
Der Begriff Präludium und seine unterschiedlichen nationalsprachigen Varianten (Preludio, Prélude u.a.) gehen zurück auf die lateinischen Wortbestandteile „prae“ (vor) und „ludere“ (spielen). Ein Präludium ist also ein Vorspiel … ohne, dass zwingend ein nachfolgendes Stück „vorgeschrieben“ wäre. Schon aus dem 15. Jahrhundert sind alleinstehende Präludien oder Präambula überliefert, spätestens seit Bachs Wohltemperiertem Klavier und dessen zyklischer Anlage schienen aber Präludium und Fuge zu einer untrennbar miteinander verbundenen Norm geworden zu sein … zu einer Verbindung zunehmend heterogener Teile allerdings, zu einer nicht gleichberechtigter Bestandteile … schließlich definiert sich ein Präludium/Vorspiel weniger durch sich selbst, sondern dadurch, dass ihm etwas folgt.
Spätestens gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Vorspiel immer mehr zur spieltechnischen Vorübung, zur Etüde – auch zur Einzelkomposition, die sich aus ihrer Rolle des Amuse Gueule befreite. Die Sonate hatte gleichzeitig Vorrang gewonnen, was zyklische Formen der Instrumentalmusik angeht. Als Reminiszenzen an Johann Sebastian Bach sind gelegentlich noch Kombinationen von Präludien und Fugen entstanden und die auch als Zyklen mit je 12 oder 24 Einheiten quer durch die Tonarten, aber vitale Musikpraxis war das nicht mehr. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Mario Castelnuovo-Tedescos 24 Präludien und Fugen für zwei Gitarren unter dem Titel „Les Guitares Bien Tempérées“ oder an den gleichnamigen Zyklus für Gitarre solo von Igor Rekhin, dem Moskauer Komponisten.


Im 20. Jahrhundert, um diesen Zeitraum geht es in dem Programm der vorliegenden CD von Cristiano Porqueddu schließlich, entwickelte sich das Prélude zu einer freien instrumentalen Form unterschiedlicher Couleur … meist für Klavier. Alexander Skrjabin (1871—1915) spielte eine wichtige Rolle, Sergei Rachmaninow (1873—1943), später Gabriel Fauré (1845—1924) und Claude Debussy (1862—1918), dessen „Prélude à l’après-midi d’un faune“ als Hauptwerk des neuen musikalischen Impressionismus gewertet wird.
Schließlich sind Préludes auch für Gitarre komponiert worden – eine Auswahl davon hat Cristiano Porqueddu für sein CD-Programm zusammengestellt. Nicht die bekanntesten und in Überfülle wundgespielten wie beispielsweise die „Cinq Péludes“ von Villa-Lobos, hat er ausgewählt, sondern Raritäten … im Programm seiner CD gehören lediglich die 24 Préludes von Ponce zum Standard-Repertoire.
Und die anderen Komponisten? Boris Vladimirovic Asafiev (1884—1949) war Komponist und einer der Begründer der sowjetischen Musikwissenschaft. Opern hat er geschrieben, eine erkleckliche Zahl großer Ballettmusiken sowie zwölf Préludes und sechs Romanzen für Gitarre solo und ein Konzert für Gitarre und Orchester. Für Asafievs Interesse an der Gitarre war Andrés Segovia verantwortlich, für die Wiederentdeckung seiner Gitarrenwerke, wie kann es anders sein, Matanya Ophee. Die Neuausgabe des Konzerts bei Editions Orphee (EICM-18) besorgte Angelo Gilardino, einer der Lehrer von Porqueddu und Autor der liner notes für vorliegende CD.
Die außerordentlich attraktiven Préludes von Asafiev wirken auf mich keineswegs russisch. Eher so, als habe ihr Schöpfer nach Westen geschaut und gehorcht, als er sie 1939 geschrieben hat. Nach Westen und in die Vergangenheit. Ich höre hie und dort, wie fragile Harmonien, die Debussy geschrieben haben könnte, das musikalische Gewebe durchschimmern, und ich höre Wendungen, die auch von Satie sein könnten.
Die Präludien des Niederländers Henk Badings (1907—1987) sind 1961 entstanden. Auch sie sind nicht radikal neutönig, aber expressiver als die von Asafiev; außerdem verraten sie, dass ihr Komponist ziemlich virtuos mit den Möglichkeiten der Gitarre umgegangen ist. Er breitet eine Sammlung musikalischer Reminiszenzen vor seinen Zuhörern aus – Canon und Fuge, Bicinium und Tricinium, Intrada und Interludio, Utopia –, in der immer wieder Verbindungen von traditionellen Formen und neuer musikalischer Sprache auf die Probe gestellt werden.
Henri Sauguet (1901—1987) kam 1921 nach Paris und bekam dort Kontakt zu Mitgliedern der legendären „Groupe des Six”. Jean Cocteau war einer der Mentoren dieser Gruppe, ein anderer war Erik Satie. Zusammen wandte man sich gegen den Schwulst der neoromantischen Musik namentlich Richard Wagners, auch sogar gegen die Musik des in Frankreich übermächtigen Claude Debussy, der 1918 gestorben war. Cocteau (1889—1963) hat 1917 das Libretto zu dem Ballett „Parade“ geschrieben: Musik von Erik Satie, Bühnenbild und Kostüme von Pablo Picasso, Choreographie Léonide Massine, die Tänzer gehörten zu den Ballets Russes … dies nur als eine Art Situationsbeschreibung: „Paris, 1920er Jahre“.
Die drei Préludes von Henri Sauguet erklären sich durch ihre Überschriften „Prélude la mélancolie“, „Prélude au souvenir“ und „Prélude aux gestes“. Sie sind entstanden, als Sauguets Kontakt zur „Groupe des Six“ schon viele Jahre zurücklag und als die Gruppe und ihre künstlerischen Ideen und Forderungen längst überlebt waren … 1970.
Der letzte Zyklus an Préludes, die Porqueddu spielt, stammt von Ferenc Farkas (1905—2000). Auch er war ein gestandener Komponist, der über siebenhundert Werke für alle möglichen Besetzungen komponiert hat: Bühnenwerke, Werke für großes Orchester, Chor, Kammermusik aller Art. Er war Professor an der Musikakademie in Budapest … und hat zur Zeit seiner Pensionierung im Jahr 1975 die Gitarre entdeckt und danach viel für das Instrument geschrieben. Die Préludes sind 1982 entstanden und bilden zusammen das „Exercitium tonale“ des Komponisten, eine Art Sammlung seiner musikalischen Übungen, eine Tour de Force durch alle Tonarten und um alle kontrapunktischen Klippen. Nicht, dass sie im sportiven Sinn des Wortes virtuos wären, nein, aber sie gehen konsequent keiner musikalischen und satztechnischen Prüfung aus dem Weg und das stellt bekanntlich vor Probleme.
Die 24 Préludes des „Exercitium tonale“ sind keine avantgardistische Musik und auch keine historisierenden Bekenntnisse zu Johann Sebastian Bach oder zu anderen Vorbildern. Und es sind auch keine Petitessen (die längste zweieinhalb Minuten, die kürzeste gerade einmal 31 Sekunden lang!), deren Reiz nur oder hauptsächlich im Erfüllen der gesetzten Aufgabe gesehen werden könnte.
Das Programm der CD „Novecento Guitar Preludes“ von Cristiano Porqueddu ist, ich muss hier zu diesem Superlativ greifen, sensationell! Alle fünf der zu hörenden Zyklen von Préludes sind erstklassige, ernstzunehmende Werke und stammen von namhaften Komponisten – trotzdem sind drei davon Ersteinspielungen (die Ponce-Préludes liegen in mehreren Einspielungen vor, das „Exercitium tonale“ von Ferenc Fampas hat Alfonso Baschiera bei NOVA ERA schon einmal aufgenommen).
Gitarristen müssen sich immer wieder die Klage gefallen lassen, ihr Repertoire sei klein und bestehe weitgehend aus unbedeutendem Spielmaterial, das manche Interpreten dazu auch noch selbst zusammenschusterten. Gleichzeitig bleibt hochwertiges, originales Repertoire oft unbeachtet … wie im Fall der Préludes. Wenn Gitarristen die Chance haben wollen, ihre künstlerische Tätigkeit von der sauerländischen Provinz in internationale Spielorte zu verlegen, dürfen sie solche Angebote nicht links liegen lassen!
Cristiano Porqueddu ist ein Gitarrist, der sehr genau und sehr sensibel mit dem musikalischen Material umgeht, das er spielt. Das Gitarristen-typische Kokettieren mit „schönen Stellen“ oder den klanglichen Schololadenseiten des Instruments scheint ihm fremd zu sein. Außerdem gehört das Verstecken hinter klanglichen Schutzschilden nicht zu seinen Gewohnheiten, auch dann nicht, wenn er ob seiner dezidiert distanzierten Art hie und dort Schwachstellen einer Komposition dekuvriert. „Tricinium“ und vor allem „Bicinium“ von Henk Badings zum Beispiel sind ziemlich karge und schmucklose Stücke … und Cristiano stellt sie bewusst so dar.
Porqueddu ist ein Strukturästhet und keiner des Klangs. Das geht so weit, dass er nicht einmal die unangenehmen Geräusche, die auf der Gitarre bei Lagenwechseln entstehen, auf Kosten des Spielflusses minimiert. Da hat er andere Prioritäten!
Mit einem ziemlich wilden Satz namens „Rasgueado“ schließt die Reihe der Préludes von Henk Badings. Auch da verfällt Porqueddu nicht in Gitarristengewohnheiten, die dieses Stück vermutlich glatter, fließender, dem Flamenco verwandter hätten ausfallen lassen. Nein, der Interpret bleibt seinem Kurs und seinem Versprechen Komponisten und Werk gegenüber treu und nimmt sich zurück.
Noch ein abschließendes Wort zu der Produktion: Bei ihrer Betrachtung und bei der Lektüre des Begleitmaterials ahnt man den positiven Einfluss, den Angelo Gilardino bei ihrer Entstehung ausgeübt hat. Er war, wie schon bemerkt, einer der Lehrer von Porqueddu. Er ist bei dem Verlag Bèrben in Ancona für Gitarrenmusik zuständig und dort, bei Bèrben, sind die auf der CD gespielten Zyklen von Henk Badings, Henri Sauguet und Ferenc Farkas erschienen.