Giuliani pop

Foto: Peter Päffgen, Johannes Jansen, Bernd Heyder, Manfred Johannes Böhlen am 14. September 2008 anlässlich einer Buchpräsentation und des Geburtstages von CONCERTO im Kölner Deutschlandfunk (Foto © Heinz-Dieter Falkenstein)

fam con1 1024x689 600x403Sich mit alter Musik so zu befassen, dass man sie „Alte Musik“ nannte, war in den 1970er und den frühen 1980er Jahren immer noch etwas Besonderes. Auf den Plattenhüllen derer, die das machten, wurde unübersehbar darauf hingewiesen – wenn nicht gleich ganze Labels ausschließlich der Pflege der „historischen Aufführungspraxis“ vorbehalten blieben oder just dafür entstanden waren. Die Archiv Produktion der Deutschen Grammophon zum Beispiel war 1949 gegründet worden, unter anderem um dem endgültigen Verlust historischer Orgeln und anderer Musikinstrumente mindestens durch Klangdokumentationen entgegenzuwirken, die nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen hergestellt und auf Schallplatten veröffentlicht werden sollten und wurden. Das Programm der Archiv Produktion war in „Forschungsbereiche“ unterteilt, I: Gregorianik bis XII: Mannheim und Wien (1760—1800). Bei der Gestaltung der Schallplatten wurde auf jegliche Bebilderung verzichtet, bei der künstlerischen wie technischen Ausstattung an nichts gespart.
Zur gleichen Zeit, Ende der vierziger Jahre, trafen sich an der Wiener Hochschule für Musik und Darstellende Kunst der niederländische Cembalist Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt, damals im Brotberuf Cellist bei den Wiener Symphonikern unter Herbert von Karajan. Der eine gründete wenig später das Leonhardt-Consort, sein Kommilitone den Concentus Musicus. Zusammen planten und realisierten sie Aufnahmen von Bach-Kantaten … und sie interessierten Schallplatten-Produzenten für ihre Projekte. „Schon vor Jahren, als ich mit Harnoncourt zusammentraf, sagten wir uns: Das alles darf nicht stehenbleiben bei den Dingen am Rande, wir müssen die Matthäuspassion und die Johannespassion einbeziehen und auf diesem Wege Veränderungen bewirken, wir müssen sogar zur Klassik vorstoßen“ meinte Gustav Leonhardt 1984. Wenn Musik als „Alte Musik“ bezeichnet wird, war und ist das nur am Rand eine Altersangabe – es ist mehr eine Aussage über die Herangehensweise an die Interpretation dieser Musik. Grundsätzlich muss ein Interpret entscheiden: Übertrage ich die Musik vergangener Zeiten in meine Zeit, spiele ich sie also so, wie heute musiziert wird, oder versuche ich, Musik so aufzuführen, wie sie vermutlich zu ihrer Entstehungszeit aufgeführt worden ist? Nikolaus Harnoncourt meint dazu [Musik als Klangrede 1982]: „Diese Einstellung zur historischen Musik – sie nicht in die Gegenwart hereinzuholen, sondern sich selbst in die Vergangenheit zurückzuversetzen – ist Symptom des Verlustes einer wirklich lebendigen Gegenwartsmusik […] Die Musik Bruckners, Brahms’, Tschaikowskys, Richard Strauss’ und anderer war noch lebendigster Ausdruck ihrer Zeit. Dort aber ist das ganze Musikleben stehengeblieben: diese Musik ist noch heute die am meisten und liebsten gehörte, und [jetzt kommt die Folgerung] die Ausbildung der Musiker an den Akademien folgt noch immer den Prinzipien dieser Zeit. Es scheint fast, als wolle man nicht wahrhaben, dass seither viele Jahrzehnte vergangen sind.“ Entscheidet sich ein Interpret also dafür, ältere Musik in seine Zeit zu übertragen und sie mit den zu seiner Zeit zur Verfügung stehenden Stilmitteln zu realisieren, wählt er nicht wirklich die „moderne“ Variante, sondern auch eine historische, aber eine falsche … es sei denn, er befasst sich mit spätromantischer Musik.

Vorher, bevor sich die Aufbruchsstimmung hin zu neuen interpretatorischen Ufern breitmachte, gab es auch schon alte Musik, aber man warf ihr vor, sie habe von Formalin umwölkt auf dem Seziertisch der Wissenschaft gelegen. Harnoncourt spricht von „musikwissenschaftlichen Aufführungen, die historisch oft einwandfrei sind, denen aber jedes Leben fehlt“ und plädiert: „Da ist eine historisch ganz falsche, aber musikalisch lebendige Wiedergabe vorzuziehen“. Genau auf diese Versuche zielte auch Adorno mit seiner „Kritik des Musikanten“: „Man braucht nur den zugleich nüchternen und läppischen Klang einer Blockflöte zu hören und dann den einer wirklichen: die Blockflöte ist der schmählichste Tod des erneut stets sterbenden großen Pan“.
Man bedenke in diesem Zusammenhang, dass die Schola Cantorum Basiliensis schon 1933 als „Lehr- und Forschungsinstitut für alte Musik“ gegründet wurde, dass schon 1954 in Köln das weltweit erste Orchester entstand , das im Sinne der historischen Aufführungspraxis musizierte, die Capella Coloniensis, und dass Arnold Schering schon 1930 schrieb „Wir leben augenblicklich in einer Zeit der Hochkonjunktur in alter Musik“ [Aufführungspraxis alter Musik, S. 3] – das Sich-Befassen mit alter Musik und ihrer Aufführung ist also keineswegs neu. Zwar wissen wir, dass erst seit dem 19. Jahrhundert erwähnenswert oft ältere, das heißt nicht aktuelle Musiken öffentlich wieder aufgeführt wurden und dass vorher nur die jeweils aktuelle, neue Musik Interessenten fand – wir wissen aber auch, dass man die historischen Werke „modern“ aufgeführt hat und dass ältere Werke auch bearbeitet und modernisiert wurden. Auch die denkwürdige Neuaufführung der Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn-Bartholdy am 11. März 1829 zeichnete sich keineswegs durch Authentizität aus … „Mendelssohn leitete vom Flügel aus, »der quer zum Publikum zwischen beide Chöre gestellt worden war.«“ [Gutknecht, Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik, S. 45]
Wandervogel, Jugendbewegung und Jugendmusikbewegung spielten eine gewisse Rolle bei der Wiederbelebung alter Musikinstrumente. Das schon zitierte Diktum von Theodor W. Adorno über die Blockflöte bezieht sich auf eben diese Rolle. Und Adorno sieht den Hintergrund: „Nicht um musikalische Stilfragen handelt es sich bei alldem, sondern um ein Gesellschaftliches und Psychologisches … Alle eifern etwa gegen Snobismus, gleichgültig, was sie sich darunter denken. Keiner soll sich besser dünken als die anderen, keiner sich distanzieren: der Kleinbürgerhass gegen eine Luxusschicht, von der man sich ausgeschlossen fühlt und auf die man das Verbotene und insgeheim Ersehnte projiziert … “ „Zurück zur Natur“ war einer der Leitsätze, Laute, Gambe und Blockflöte waren die Musikinstrumente, mit denen man sich umgab. Aber es waren nur Versatzstücke, Symbole für etwas fernes und verlorenes.
Auch wenn die Jugendbewegung in der Wiederentdeckung alter Musik keine zentrale Rolle gespielt hat, ihre Spuren hat sie hinterlassen. Noch vor 25 Jahren zum Beispiel war es für Musiker dieser Szene verpönt, im Frack oder ähnlichen traditionellen Outfits aufzutreten. Man wollte sich von den Kollegen im etablierten Musikbetrieb absetzen, einfach anders sein und zwar in jeglicher Hinsicht. Reinhard Goebel und seine Kollegen von der Musica Antiqua Köln scherten sich nicht um diese ungeschriebene Regel, auch ein paar ihrer damals schon etablierten Kollegen nicht, aber insgesamt war man sich einig: Wir sind anders und das soll man auch sehen. Außerdem haben sogar die Solisten in der „Alten Musik“ immer Noten (oder Tabulaturen) vor sich -- auch wenn sie nie hineinschauen, während ihre Kollegen auswendig spielen und das auch unbedingt müssen, weil sie sonst ihre wilden Gesten und Grimassen nicht ausführen könnten, auf die, wie kann es anders sein, in der Alten Musik weitgehend verzichtet wird.
Vor 25 Jahren hatte die Pflege Alter Musik noch ein Wenig jenes Burg-Waldeck-Flairs von Jugendbewegung und Hausmusik bzw. war dabei, es abzulegen. „Die Haus- und Kammermusik dient Andacht oder Geselligkeit. Die Wirkung auf nur zuhörende Dritte ist dabei nicht in erster Linie wesentlich“ hieß es in einem Artikel über die Kasseler Musiktage aus dem Jahr 1933. Einen professionellen Musikbetrieb um große, emotionalisierte und emotionalisierende Musik lehnte man damals noch ab … aber das hat sich grundlegend geändert.
Unterscheiden sich die Vertreter der „Alten Musik“ und ihre Kollegen von der Vibrato-Fraktion denn überhaupt nicht mehr oder nur noch dadurch, dass der eine Cembalo und der andere Klavier spielt, mag man nun fragen. Keineswegs, aber die Errungenschaften der Aufführungspraxis sind so weitgehend in die allgemeine Musikpraxis aufgenommen worden, dass der Unterschied immer kleiner wird – und gemeint ist jetzt nicht mehr der Unterschied in der Kleidung, sondern der interpretatorische. Besonders Phrasierungs- und Akzentuierungsmuster, die sich aus der Erforschung der Aufführungsgewohnheiten vergangener Zeiten ergeben haben, werden mittlerweile von Musikern aller Sparten angewandt, und zwar nicht weil sie korrekt oder authentisch sind, sondern weil sie Sinn machen und der Musik einen neuen, frischen und keinen altbacken- verstaubten Charakter geben.
Vor 25 Jahren, im Herbst 1982, war vieles noch in Bewegung, was die Alte Musik angeht. Die Szene hatte noch ihr selbstgestricktes Image und Konzertbesuchern musste noch erklärt werden, dass Alte Musik zu hören nicht unbedingt einen Verlust an Sinnlichkeit und Vitalität bedeutet. Aber wie gesagt: Vieles war in Bewegung. Fünf Jahre vorher hatte ich meine Zeitschrift Gitarre & Laute gegründet, die gelegentlich auch mit der Aufführungspraxis Alter Musik zu tun hatte – jetzt wollte ich eine Zeitschrift aus der Taufe heben, die ausschließlich diesem Thema gewidmet war. „Orfeo“ sollte sie zuerst heißen, wurde dann aber umgetauft in „Concerto“, weil es schon eine Plattengesellschaft „Orfeo“ gab. Concerto erschien ein paar Jahre unter meiner Leitung im Verlag Gitarre & Laute GmbH, danach wurde der Titel an einen Verlag in der Schweiz verkauft, der sie aber nicht lange weiterführte. Die Zeitschrift erscheint weiterhin (oder wieder?), und zwar seit 1989 im Concerto-Verlag in Köln, den zwei Mitarbeiter der ersten Jahre, Johannes Jansen und Manfred Johannes Böhlen, gegründet hatten.
Am 4. September 2008 wurde Geburtstag gefeiert: 25 Jahre Concerto. Ich gratuliere herzlich! Mit 25 Jahren sind die Kinder aus dem Dicksten raus und blicken meistens schon auf eine gewisse berufliche Karriere zurück … und die kann sich bei Concerto durchaus sehen lassen. Der Wurf, der ganz am Anfang gewagt worden ist, mit farbig illustrierten und ebenso geschriebenen Reportagen, mit Darstellungen großer Opern- und Konzertaufführungen, um nur Beispiele zu nennen, war vielleicht zu groß – zu groß für ein kleines Verlagsunternehmen und zu groß für die Szene Alter Musik, die damals, vor 25 Jahren, noch sehr im selbstgestrickt jugendbewegten Fahrwasser dümpelte. Dr. Hermann Moeck, Gründer und damals Leiter der nach ihm benannten Blockflötenfabrik [!] in Celle und selbst Herausgeber einer braven Zeitschrift mit dem Namen „Tibia“, meinte nach Erscheinen des ersten Heftes von Concerto: „das Druckbild ist reichlich unruhig und den manchmal zu wortreichen Text zwischen Anzeigen und Bildern zu lesen, ist anstrengend“, und dann fällt auch noch das Teufelswort „journalistisch“. Na ja! Herr Dr. Moeck hätte auch kurz schreiben können „zu bunt!“ um damit den Hinweis darauf zu liefern, dass die Zeit damals nicht reif war für Concerto. „Zu bunt!“
Ein paar Ausgaben erschienen danach in der notorisch schwarz-weißen Schweiz und Concerto kam zurück nach Köln … um eine neue Alte Musik auf ihrem Weg zu begleiten und ihr auch Wege zu ebnen. Was sich in den 25 Jahren bewegt hat, ist enorm!