Giuliani pop

Negwer Villa LobosDiese Rezension erschien auch in Gitarre & Laute ONLINE XXX/2008/Nº 3-4.

Dafür, dass Heitor Villa-Lobos als „bedeutendster und weltweit erfolgreichster Komponist Südamerikas“ gilt, gibt es beschämend wenig deutschsprachige Literatur über ihn … gemeint ist nicht die Spezialliteratur, mit der sich Gitarristen befassen und wo es um offene Fragen spieltechnischer oder aufführungspraktischer Art geht, nein, gemeint ist allgemeine Literatur zu Heitor Villa-Lobos und seinem Œuvre. Im Klappentext des immer noch als Standardliteratur geltenden Buches von Lisa M. Peppercorn („Heitor Villa-Lobos: Ein Komponist aus Brasilen“, Zürich u.a. 1972) heißt es schon: „Dieses Buch füllt eine Lücke unter den Musikerbiographien aus, denn es gibt bis heute kaum Literatur über den größten Komponisten Brasiliens – in deutscher Sprache überhaupt nichts.“ Über dreißig Jahre sind vergangen seit Peppercorn und nichts hat sich geändert, was die Literaturdichte zum Thema Villa-Lobos angeht … bis jetzt, im Herbst 2008, dieses bemerkenswerte Buch erschien:

Manuel Negwer: Villa-Lobos — Der Aufbruch der brasilianischen Musik
Mainz u.a. 2008 [ED 20316, ISBN: 978-3-4957-0168-0] € 22,95

Der Autor, das als Entwarnung vorweg, hat zwar unter anderem Gitarre studiert (bei Siegfried Behrend), bei seinem Buch handelt sich aber um keines, in dem die Lebensgeschichte von Heitor Villa-Lobos vornehmlich oder gar ausschließlich aus der Perspektive eines Gitarren-Apologeten betrachtet wird. Sie kommt vor, die Gitarre, aber nur in dem Maße, wie sie im Leben und Schaffen von Heitor Villa-Lobos vorgekommen ist. Manuel Negwers Buch ist eine Biographie mit, sagen wir, deskriptiv-analytischen Werkbeschreibungen. Und es ist ein Buch, das den Komponisten vor dem politischen und kulturellen Hintergrund seiner Zeit darstellt … und da gibt es viel zu erzählen. Am 5. März 1887, das scheint jetzt unwiderlegbar festzustehen, ist er in Rio de Janeiro geboren. Schon der gerade im Nebensatz angedeutete und gleichzeitig ausgeräumte Zweifel, was das Geburtsdatum des Komponisten angeht, lässt ahnen, welche Widrigkeiten Negwer bei seiner Arbeit zu überwinden hatte: unzählige Legenden, an denen der Maestro oft nicht unschuldig war, dazu die schon erwähnte Ignoranz seitens der internationalen Fachpresse und Wissenschaft und das daraus resultierende Nicht-Vorhandensein verlässlicher Vorarbeiten. Noch einmal: Am 5. März 1887 ist er in Rio de Janeiro geboren. Ein, zwei Jahre später wurde in Brasilien die Monarchie gestürzt, die Republik ausgerufen und im gleichen Atemzug die Sklaverei abgeschafft. Mit diesem Paukenschlag begann das Leben des Heitor Villa-Lobos. Und der Paukenschlag tönte nach: Eine dreiviertel Million Sklaven war frei und begann, in den Großstädten Unterkünfte zu sichern. Die ersten „favaleas“ entstanden und musikalisch etablierten sich sehr langsam afrobrasilianische Elemente. 1891 wurde eine neue Verfassung verabschiedet – Brasilien wurde eine föderative Republik, wie wir sie aus Deutschland kennen. Gleichzeitig türmten sich wirtschaftliche Probleme auf: Kaffeekrise, Zuckerkrise und das Ende des Kautschukbooms, der Brasilien Wohlstand versprochen und zeitweise auch geleistet hatte. Villa-Lobos interessierte sich schon als Kind für Musik – das hatte er von seinem Vater, der als Amateur Cello und Klarinette gespielt hat. Und zwar war es die populäre brasilianische Musik, die ihn anzog, der Choro hauptsächlich. In Choro-Gruppen, die in bürgerlichen Kreisen nicht angesehen waren, spielte er Gitarre … sie war das Instrument der Gaukler und Straßenmusiker, der „Chorâos“ eben.
Für die andere Musik, die „música erudita“, die gelehrte Musik, hatte er sein Cello – das erste hatte ihm sein Vater aus einer alten Bratsche gebaut. Aber hier war Villa-Lobos schon mit dem Konflikt konfrontiert, der ihn sein Leben lang begleiten sollte: Gehörte seine Leidenschaft der „música popular brasileira“ oder der klassischen Musik, die hauptsächlich europäisch beeinflusst war und wo war die Grenze zwischen den beiden Sphären? Villa-Lobos begann, in Brasilien zu reisen und lernte Volksmelodien kennen, die er sammelte und in seinen eigenen Kompositionen verarbeitete … so jedenfalls stellte er es gern dar. Heitor Villa-Lobos hatte neben seinen musikalischen eine andere Fertigkeit und Leidenschaft, nämlich die, sich zu inszenieren. Die meisten Melodien stammten aus Publikationen ethnologischer Forschungen, die damals betrieben wurden – andere hat Villa-Lobos schlicht und einfach erfunden.

 

Aber unser Komponist hatte Startschwierigkeiten: Er war gerade 27, als der Erste Weltkrieg ausbrach, zur gleichen Zeit plagten die beschriebenen wirtschaftlichen Probleme sein Land. Am 30. Juni 1923 fuhr er zum ersten Mal nach Paris, in die kulturelle Hauptstadt Europas … aber es war enttäuschend. Die Avantgarde sprach eine andere Sprache. Schönberg, Strawinsky, Berg, Webern, auch Richard Strauss … Villa-Lobos’ Konzerte wurden mit höflichem Desinteresse quittiert. Er reiste, auch weil sein Budget aufgebraucht war, schon im September 1924 zurück nach Brasilien. Dort vertraten zur gleichen Zeit die Anhänger des „Modernismo“ die Emanzipation brasilianischer Kultur: „Europa und die alte Kolonialmacht Portugal hatte nach dem Weltkrieg als kulturelles Vorbild für Brasilien ausgedient“. „Antropofagia“ wurde eine künstlerische Richtung genannt, Kannibalismus. Angespielt wurde damit auf die brasilianischen Tupí-Indianer, die jahrhundertelang unterdrückt worden waren. Sie waren Kannibalen. Eine zweite Reise führte Villa-Lobos 1926 nach Paris, dieses mal war sie erfolgreicher. Einflüsse aus fremden Kulturen wurden zu dieser Zeit gierig aufgenommen und verarbeitet. „Was die Weltstadt Paris nicht mehr wollte, war die ständige Wiederbegegnung mit abgestandenen Surrogaten ihrer eigenen Kultur.“ Villa-Lobos gefiel sich in der Rolle des „sauvage brésilien“ und wehrte sich nicht gegen Presseartikel, in denen von „Kannibalenmusik“ die Rede war … vielleicht hatte er sie selbst lanciert? „Die Beschwörung des Regenwaldes, die Tänze und Flötenklänge der Indianer, die undefinierbaren Geräusche exotischer Instrumente, de Schreie tropischer Vögel, das Gesumme der Insekten und das Blinken der Glühwürmchen“, das wollten die Europäer erleben … und Villa-Lobos lieferte. „Weit über hundert Werke entstanden in den Jahren zwischen 1923 und 1929, die meisten davon mit betont brasilianischem Charakter.“ 1930 wurde Getúlio Dornelles Vargas (1883—1954) zum brasilianischen Präsidenten gewählt, ein Rattenfänger, wie sie zu dieser Zeit an verschiedenen Stellen der Erde agierten. Vargas versprach Besserung und gründete 1937 sogar einen „Estado Novo“, einen neuen brasilianischen Staat, in dem Parteien, Gewerkschaften und Streiks verboten waren und der Kongress abgeschafft wurde. Viele glaubten an seine Versprechungen, auch Heitor Villa-Lobos: „Der Künstler ist für die Massen unverzichtbar und ich denke, dass man auf der ganzen Welt verwirklichen sollte, was Mussolini in Italien angeordnet hat: den Musiker in jeder Art und Weise einzusetzen“. Vargas zeigte sich bei Villa-Lobos mit wohl honorierten Ämtern erkenntlich, die SEMA, die Superintendência de Educação Musical e Artística“ gründete er eigens für ihn. Er war erfolgreich, fungierte als eine Art kultureller Botschaft seines Landes … zog aber die Kritik vieler Intellektueller auf sich. Heitor Villa-Lobos befasste sich nicht mehr mit der Pariser Avantgarde, seine „Bezugspartner waren jetzt die auf nationalistische Verlässlichkeit pochenden Funktionäre des Vargas-Regimes und die unerfahrenen und wenig weltläufigen Musiklehrer.“ Seine Kompositionen wurden traditioneller, brasilianischer. In den vierziger Jahren entstanden übrigens auch die fünf Préludes für Gitarre, von denen das erste und vierte in Brasilien eine aus unserer Sicht unerwartete Popularität haben. Sie „tauchen […] immer wieder als Erkennungsmelodien in der Fernsehwerbung und in Telenovelas auf.“ Getúlio Vargas wurde 1945 abgewählt, schaffte es 1951 zwar noch einmal, die Präsidentschaft wieder zu erringen, schied dann aber 1954 durch Suizid aus dem Leben. Die Korruption hatte in Brasilien so dramatisch zugenommen, dass ein geordnetes politisches Leben unmöglich geworden war. Brasilien stand vor einer großen innen- und vor allem außenpolitischen Reform. Zusammenarbeit mit den kapitalistischen westlichen Ländern war jetzt angesagt … auch bei Villa-Lobos. Er reiste in die USA, auch wieder nach Paris. „In Europa prägten Avantgardisten wie Pierre Boulez, Luigi Nono, Hans Werner Henze und Karl-Heinz Stockhausen den musikalischen „Wiederaufbau“. In den USA wirkten Emigranten wie Kurt Weill und Arnold Schönberg, gleichzeitig wurde John Cage zur Leitfigur der Neuen Musik während Duke Ellington und Charlie Parker den Jazz zu neuen Höhepunkten führten.“ Villa-Lobos war immer bekannt wegen seiner erfolgreichen Werke „Bachianas Brasileiras“, der Choros oder der symphonischen Dichtungen, aber er musste jetzt wieder komponieren, um Geld zu verdienen. Seine Zeit als gut bezahlter Musikfunktionär unter Getúlio Vargas war vorbei. Er versuchte sich als Filmkomponist für Hollywood. Sein erstes Produkt wurde aber zu
„einem grandiosen Misserfolg“, obwohl Audrey Hepburn die Hauptrolle spielte. Dann schrieb er eine Oper mit dem Titel „Yerma“ nach Texten von Federico García Lorca. Erst 1971, lange nach Villa-Lobos’ Tod, konnte das Werk in Santa Fé uraufgeführt werden. Schließlich entstand ein Ballett zu einem Drama von Eugene O’Neill. „Nach dem von der französischen Musik geprägten Frühwerk, der „brasilianischen“ Pariser Phase, der neobarock-retrospektiven Vargas-Zeit und dem eher gefälligen Mainstream-Stil der New Yorker Zeit deutete sich in den letzten Jahren eine fünfte Schaffensperiode an. […] Es entstanden nun Werke, die eine für Villa-Lobos eher außergewöhnlich nüchterne, zurückgenommene Haltung aufweisen …“ Einige große Werke entstehen noch, einige Sinfonien, Streichquartette, eine „Fantaisie concertant“ für Klavier, Klarinette und Fagott. Villa-Lobos reist rastlos von einem großen Konzert zum nächsten, sieht sich aber enttäuscht: „Ich habe alles unternommen, um Brasilien eine wahrhaftige Musikkultur zu bringen. Es ist sinnlos. Das Land wird von der Mittelmäßigkeit beherrscht. Für jede mittelmäßige Person, die stirbt, werden fünf neue geboren.“ Am 17. November 1959 starb Heitor Villa-Lobos in Rio de Janeiro. Danach „schrumpfte das international aufgeführte Villa-Lobos-Repertoire auf einige Klavierwerke und das Gitarrenwerk zusammen.“ Die Lektüre des vorliegenden Buches von Manuel Negwer ist nicht nur mangels Alternativen jedem zu empfehlen, der sich mit Heitor Villa_Lobos befasst. Es erlaubt Einblicke in seine Lebensgeschichte, die einem Vieles erklärlich machen. Seine Leidenschaft sich selbst zu inszenieren zum Beispiel und seinen elastischen Umgang mit musikalischem Stil und politischen Gepflogenheiten. Villa-Lobos hat sein Leben lang berechtigte oder nicht berechtigte wirtschaftliche Sorgen gehabt – bis auf die Zeit, als er für den faschistischen Staatspräsidenten Getúlio Vargas arbeitete … aber auch dieses Engagement hat ihm à la longue kein Glück gebracht. Das Buch könnte, was die Werkbeschreibungen angeht, etwas weitergehend analytisch sein. Über manche Kompositionen werden nur mehr oder minder statistische Angaben angeboten. Negwers Buch über Heitor Villa-Lobos enthält als Krönung noch eine Bonus-CD und allein ihretwegen kann man seine Anschaffung empfehlen. Der Komponist persönlich spielt das erste Prélude und „Choros Nr. 1“ auf der Gitarre, danach einige Klavierstücke und ein paar Stücke für Gesang und Klavier. In der Gitarrenwelt wusste man schon lange von diesen Aufnahmen, die ausnahmslos im Besitz des Museu Villa-Lobos in Rio de Janeiro sind – aber nur wenige haben sie je gehört. Jetzt liegen sie als CD vor!