Giuliani pop

IL DIVINOIst es nicht eigenartig? Das Wort „Starlautenist“, das ich da auf der CD mit Musik von Marco dall’Aquila lese, kommt mir in diesem Zusammenhang nur schwer über die Lippen. Dabei kann man es auf alle drei Personen anwenden, mit der wir es heute zu tun haben. Francesco da Milano (1497—1543) wurde wegen seines Spiels schon vor fast fünfhundert Jahren „Il Divino“ (der Göttliche) genannt. Den Namen von Marco dall’Aquila (ca. 1480—1544), seinem direkten Zeitgenossen, findet man in Werken der berühmtesten Dichter seiner Zeit. Dort wird er gelobt und gepriesen als einer, dessen Spiel seinen Zuhörern die Sinne raubte. Beide, Francesco und Marco, waren Starlautenisten … auch wenn man sie natürlich nicht so genannt hätte.

Der Dritte im Bunde, auf ihn ist eigentlich das Wort „Starlautenist“ auf dem CD-Cover gemünzt und auch auf ihn trifft es zu! Auch, wenn einem der Begriff „Star“ zu abgegriffen vorkommt, zu plakativ und belastet: Paul O’Dette ist einer der ganz Großen seiner Zunft … wenn nicht gar, speziell für Lautenmusik der Renaissance, das Beste, was man heute hören kann!

Francesco da Milano: Il Divino
Paul O’Dette, Lute
Aufgenommen im August 2011, erschienen 2013
harmonia mundi USA HMU 907557
… einer der ganz Großen seiner Zunft …

Marco dall’Aquila
Pieces for Lute
Paul O’Dette
Aufgenommen im August 2008, erschienen 2010
harmonia mundi USA HMU 907548
… wenn nicht gar, speziell für Lautenmusik der Renaissance, das Beste, was man heute hören kann! …

DALL AQUILADas präsentierte Repertoire von Francesco da Milano besteht aus Fantasien auf der einen und Intavolierungen auf der anderen Seite. Seine Fantasien (oder Ricercari) sind vielleicht das Vollkommenste, was an Instrumentalmusik aus der italienischen Renaissance überliefert ist. Es sind meist streng durchgeformte kontrapunktische Kompositionen, die virtuose Passagen, Umspielungen, enthalten können, sonst aber dem Vorbild der mehrstimmigen Vokalmusik verpflichtet sind.

Entstanden ist die Form der Fantasia aus einer Tradition des polyphonen Extemporierens. Bis ins 14. Jahrhundert war die (sakrale) Vokalmusik alles beherrschend und so kam es, dass Musiker der frühen instrumentalen Tradition bekannte Cantus firmi umspielten und über sie fantasierten.

Zeugnisse einer noch direkteren Anlehnung an vokale Vorlagen waren Intavolierungen, die einen großen Teil des Repertoires der Zeit ausmachten. Sie waren 1:1-Übertragungen vokaler Kompositionen auf die Laute, manchmal mit eingestreuten Umspielungen oder instrumentalen Kommentaren – oft aber pur, als reine Übertragung auf das Medium Laute.

Über den Solisten, der uns diese Musik präsentiert, muss hier eigentlich nicht viel gesagt werden. Muss man sein Spiel noch preisen … oder hieße das vielleicht, Eulen (nicht Euros!) nach Athen zu tragen? Paul O’Dettes Aufnahmen mit englischer Lautenmusik, besonders von John Dowland, sind in Gitarre & Laute besprochen worden. Auch seine CDs mit Musik von Kapsberger, Molinaro und Pietro Paolo Borrono … und immer wieder aufs Neue mit englischer Lautenmusik. Eine CD mit „Early Venetian Lute Music: Capirola, Spinacino, Dalza“ hat er auch schon aufgenommen (bei Arabesque unter 8131) und auch schon eine mit Musik des göttlichen Francesco aus Mailand.

Was Pauls Spiel auszeichnet ist durchgehendes Legato … das Erstrebenswerteste und gleichzeitig Schwierigste, das man einem Spieler von Zupfinstrumenten abverlangen kann. Staccato kann jeder, aber ein Instrument mit punktuellem Ton zum Singen zu bringen, durchgehende Melodien zu spielen und nicht einfach nach- und nebeneinander klingende Tone und Mehrklänge, ist eine große Kunst und vielleicht gar die Essenz des Lautenspiels! Es gibt Musiker, die versuchen, musikalische Gewebe durch fast durchgehendes Arpeggieren von Akkorden, zu denen sie dann auch Zweiklänge zählen, anzureichern. Aber ein Arpeggio ist eine Verzierung, eingesetzt zum Herausheben bestimmter Passagen oder einzelner Akkorde. Paul O’Dette geht sparsam mit Arpeggien um und bewahrt ihnen damit das Besondere, um sie weiter als Highlights verwenden zu können. Gleichzeitig raubt er sich auch nicht die Chance, die Struktur der Stücke, die er spielt, klar darzustellen und nicht mit Kaskaden von Arpeggien zu verbrämen.

Dass Paul O’Dette ein perlend-präzises, sonores Lautenspiel präsentiert, ist zu oft geschrieben worden, um es wiederholen zu müssen. Aber dass er irgendwie im 16. Jahrhundert, der Zeit von Francesco da Milano & Kollegen, angekommen ist, darauf hat vielleicht noch niemand hingewiesen. Aber er ist es … ein so leichtfüßiges Spiel dieser Stücke habe ich sonst nirgends gehört. Und auch keines, das natürlicher und ungezwungener wirkt, als seines.

Auch Marco dall’Aquila war ein großer und berühmter Lautenist und wurde in einem Atemzug mit dem göttlichen Francesco erwähnt. Das Repertoire, das Paul O’Dette von ihm vorführt, unterscheidet sich insofern von dem seines Zeitgenossen Francesco da Milano, als von Marco auch Tanzsätze überliefert und eingespielt sind und weil seine Ricercari und Fantasien weniger dem strengeren polyphonen Stil verpflichtet sind, als vielmehr einem eher „rhapsodisch, improvisatorischen“ (O’Dette im Booklet) Stil, wie wir ihn aus den frühesten gedruckten Lautenbüchern des Venezianischen Druckers Ottaviano Petrucci und den Lautenisten Francesco Spinacino und Joan Ambrosio Dalza kennen. Sie, die Stücke dieser Lautenisten und auch die von Marco, repräsentieren damit eine frühere Lautenmusik und einen früheren Status von Instrumentalmusik überhaupt. Die direkte Adaption von Techniken der polyphonen Vokalmusik, wie wir sie bei Francesco da Milano finden, hatte sich zu Marcos Zeit noch nicht durchgesetzt – dafür waren seine Ricercari virtuoser und „instrumentaler“. Für uns liefern sie Beispiele für das Suchen und Versuchen der Musiker am Beginn der neuen Zeit.

Natürlich befinden sich im Repertoire von Marco auch Intavolierungen. Mit dem Schlachtengemälde „La Battaglia“ von Clément Jannequin eröffnet Paul O’Dette sein Programm, mit einer Chanson also, die zu den am häufigsten intavolierten Vokalkompositionen überhaupt gehörte. 1544 hat Hans Newsidler sogar im Titel eines seiner Lautenbücher erwähnt, ein Arrangement von „La Battaglia“ sei enthalten … so populär war die vokale Vorlage für das Stück!

Dass Paul O’Dette auch mit dieser CD wieder eine Referenzeinspielung vorgelegt hat, muss vermutlich kaum erwähnt werden. Allerdings hat mich die Aufnahme vom ersten Ton an gewundert: mehr Hall, spitzerer Ton usw. Hier ist die Erklärung, die ich in voller Länge aus dem Booklet zitiere, weil sie ein Licht auf die Arbeitsmethoden von O’Dette & Kollegen wirft: „In der Nacht des 6. April um 3:32 traf ein heftiges Erdbeben L’Aquila und zerstörte einen Großteil des historischen Stadtkerns, außerdem viele der schönen mittelalterlichen Ortschaften in der Umgebung der Stadt. Mein Aufnahmeteam hatte mit mir gemeinsam L’Aquila als Aufnahmeort für diese CD ausgesucht; als sich dies als unmöglich herausstellte, wählten wir eine mittelalterliche Kirche in der Nähe von Capestrano, 45 km südlich von L’Aquila. Kurz vor unserer Ankunft stellte man auch dort Schäden am Gebäude fest, die ungesäumt repariert werden mussten. In allerletzter Minute wurde uns vom Bürgermeister Antonio D’Alfonso freundlicherweise das Castello Piccolomini in Capestrano zur Verfügung gestellt. Zwar ist die Akustik vielleicht ein wenig halliger als man es von Lautenaufnahmen sonst gewohnt ist; aber das ehrwürdige Gebäude, das Marco dall’Aquila wahrscheinlich gekannt hat, verleiht dem Klang die Aura historischer Nähe.“

Die „Aura historischer Nähe“ ist ein Aspekt bei Aufführungen Alter Musik, zweifellos! Aber ein anderer und der fürwahr wichtigere ist, dass Stücke, die Jahrhunderte alt sind, als vitale Musik auf die Bühne gebracht werden und nicht als verstaubte Antiquitäten. Paul O’Dette kann’s! Er lässt die Lautenmusik des frühen 16. Jahrhunderts strahlen!