Vier Gitarren. Nein, keine asynchron spielenden Mandolinen und Mandolen, dazu Gitarren und vielleicht als Soloinstrument noch ein Cembalo … kein Zupforchester, nur Gitarren! Verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch, ich habe Nichts gegen Zupforchester! Aber ich sehe in ihnen ein soziales und kein künstlerisches Phänomen. So, wie der Artenschutz ohne Taubenzüchtervereine auskäme und auskommt, kommt die Musik ohne Zupforchester aus, obwohl beide, Taubenzüchtervereine und Zupforchester, eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe erfüllen.
Aber Gitarrenquartette sind keine Zupforchester! Vier Gitarristen aus Los Angeles haben vor rund dreißig Jahren ein Quartett gegründet und bereisen seitdem die Welt mit ihrer Musik – Pepe Romero, ein Mann, der einige Erfahrung in Sachen Gitarrenquartett hatte, war an der Gründung dieses „Los Angeles Guitar Quartet“ nicht unbeteiligt und konnte Tipps geben. Und die waren durchaus nötig, denn originales Repertoire für vier Gitarren gab es nicht. Man transkribierte Werke, die eigentlich für andere Besetzungen geschrieben waren, oder man komponierte selbst. Das ging, denn mit Andy York und Bill Kanengiser gab es in dem Ensemble zwei Musiker, die gute und effektvolle Musik schreiben konnten. Man wurde berühmter und so begannen auch andere Komponisten, sich für diese Ensembleform zu interessieren.
Das Los Angeles Guitar Quartet, oder LA-4 [lagq.com], wie sie oft genannt werden, hat sich nie als rein klassisches Frack-Ensemble verstanden. Wenn man klassische Musik spielt, dann nur populäre Stücke, die bei buchstäblich jedem den berühmten Wiedererkennungseffekt auslösen … eine Suite aus der Oper „Carmen“ zum Beispiel, die fast jeder mitsummen kann, oder die „Nussknacker-Suite“ von Tschaikowski. Beides keine schwer verdaulichen Brocken!
Der Rest dessen, was LA-4 spielte und spielt ist Musik, die man in den letzten Jahren „Weltmusik“ nennt: eine Prise Brasilien, etwas nordamerikanische Country- und Bluegrass-Music, dann Cuba, Spanien usw. Die Konzerte sind nie langweilig, nie eintönig, nein, sie sind spannende Demonstrationen der Virtuosität und der musikalischen Vielseitigkeit dieser Musiker und des Ensembles. Intelligente Unterhaltung!
Der internationale Erfolg des Gitarrenquartetts aus Los Angeles hat Musiker auf der ganzen Welt beflügelt, es ihnen nachzutun. Vor rund zwanzig Jahren habe ich in Völklingen im Saarland in der Jury eines internationalen Wettbewerbs für Gitarrenquartette gesessen. Das „Quatuor de Guitares de Versailles“ hat gewonnen und es gab schon damals ernstzunehmende Konkurrenz aus aller Herren Länder – heute ringen verschiedene Gitarrenquartette um die Gunst des Publikums. Das dargebotene Repertoire hat, welche Vierergruppierung man auch hört, hohe Verwandtschaft … und damit meine ich nicht die Stücke, sondern die Mixtur, das Rezept. Wie wollen die Musiker einen unterhalten? Setzen sie auf intellektuelle moderne Spielchen oder auf Klassiker? Wollen sie Kollegen mit Virtuosem imponieren oder eher Neulingen mit Klangzauber?Ganz neu im Geschäft ist das „Gran Guitarra Quartet“ mit Studenten bzw. ehemaligen Studenten der Musikhochschule Detmold:
Mosaïque
Gran Guitarra Quartet
Werke von Praetorius, Bizet, Moreno Torroba, Brouwer, Domeniconi
Aufgenommen im Januar 2009, erschienen 2010
Classic Clips [Classic-Clips.de], in Deutschland im Vertrieb von Musikwelt [mailto: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!] CLCL112
… wunderbar unbeschwerte, naive Spiellust …
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Juan Carlos Arancibia, Cem Celiksirt, Ozan Coscun und Shawn Pickup, so heißen die Mitglieder des Quartetts, spielen Repertoire, das einerseits für ihre Besetzung transkribiert worden ist und danach ein paar Originalwerke für vier Gitarren … ja, die gibt es tatsächlich! Von Federico Moreno-Torroba stammen „Estampas“ und Leo Brouwer hat eine Toccata für Gitarrenquartett geschrieben. Diese beiden Stücke werden aufgetischt, dazu „Oyun“ von Carlo Domeniconi – „eigentlich“ für Gitarrenensemble geschrieben.
Vorher gibt’s Klassiker: Carmen-Suite und Tänze aus „Terpsichore“ von Michael Praetorius. In dieser Sammlung von Tanzsätzen – Terpsichore, erschienen 1612 in Wolfenbüttel – haben sich schon viele Musiker bedient und Praetorius selbst hat dazu quasi eingeladen, als er vor rund vierhundert Jahren im Titel des Buches schrieb: „TERPSICHORE […] Darinnen allerley frantzösische Däntze und Lieder […] Wie dieselbigen von den frantzösischen Dantzmeistern in Frankreich gespielet …“ Er selbst war also keineswegs deren Komponist – er war ihr Sammler und der, der sie aufgeschrieben und zur Verfügung gestellt hat. Die Einladung wurde angenommen! Unter dem Namen Praetorius hörte und hört man immer wieder Melodien und Tänze, die einem bekannt vorkommen … als déja-ecouté-Erlebnis sozusagen. Auch unter anderen Namen! Tielman Susato (1510/1515—1570), Musiker, Herausgeber und Verleger in Antwerpen hat schon 1551 eine ähnliche Sammlung unter dem Titel „Danserye“ herausgegeben und man staunt, welche Titel man dort (wieder)findet. Aber das Tanzrepertoire des 16. und 17. Jahrhunderts bestand weitgehend aus ostinaten Formen, die variiert wurden und die natürlich immer und überall auftauchten. Als Beispiel diene das Folia-Modell. Es wurde schon im 15. Jahrhundert bekannt und ist noch im 20. Jahrhundert verwendet worden – einmal als reine ostinate Bassform und dann als Kombination des Basses und einer Melodie, die gerade Gitarristen bekannt sein sollten … schließlich war die fünfchörige Barockgitarre in solchen Tanzmusiken kaum wegzudenken.
Das junge Quartett, das sich (reichlich) selbstbewusst „Gran Guitarra Quartett“ nennt, spielt, wie gesagt, vier Sätze aus „Terpsichore“, und es tut das ordnungsgemäß. Vielleicht etwas zu glatt und rundtönig, vielleicht etwas zu brav und angepasst – aber es ist o.k.! Mit dieser Musik tritt man selten an, wenn man die Welt verändern will, diese Musik benutzen die Meisten zum Warmspielen und dafür, das Publikum endlich ruhig zu kriegen.
Ganz anders steht es um die Carmen-Suite. Bei dieser Musik geht es nicht um Nuancen oder gar um das berühmte Abwägen mit der Goldwaage. Hier geht es darum, das Publikum in Gedanken nach Spanien zu versetzen … und das geht mit Versatzstücken, die Georges Bizet zur Verfügung gestellt hat. Georges Bizet (1838—1875), Erzfranzose, der wohl einmal eine Zeit in Italien, aber nie Spanien gewesen ist und auf eine Novelle seines Landsmanns Prosper Merimée (1803—1870) schließlich seinen Welterfolg „Carmen“ geschrieben hat.
Goldwaage? Die Carmen-Suite hält ein paar virtuose Passagen bereit, die allgemein für typisch spanisch gehalten werden, und diese Passagen setzen ein großes Maß an technischer Sicherheit und Synchronizität voraus … die das Quartett nicht aufbringen kann, dafür spielen sie nicht lange genug zusammen. Aber mit der Goldwaage kann bei dieser Musik nicht gewogen werden. Hier geht es um das Erzeugen eines überzeugenden Klangs und einer Bühnenshow. Beides präsentieren die vier Gitarristen überzeugend. Ihre Jugendlichkeit (zwei der Musiker waren zur Zeit der Aufnahme gerade einmal zwanzig Jahre alt) springt den Zuhörer dabei an. Das ist wunderbar unbeschwerte, naive Spiellust, die vorgeführt wird.
Von Federico Moreno-Torroba folgen dann vier der eigentlich acht Estampas für vier Gitarren. Seine Estampas sind Bilder, die spanische Volksszenen darstellen. Kinderspiele werden da gezeigt, oder „Bailando un fandango charro“ – „Bauern tanzen Fandango“.
Hier geht es für die Musiker nicht darum, mit Virtuosität zu kokettieren, hier werden Stimmungen verlangt. In „Amanecer“ will man die Sonne aufgehen hören, die Stimmung der Morgendämmerung riechen und fühlen. Und in „Juegos Infantiles“ will man die Kinder sehen und man will sie lachen und spielen hören. All das und mehr hat Moreno-Torroba eingefangen. Er hat es nicht fotografiert, er hat es in Musik gegossen und Interpreten und Zuhörern die Chance gegeben, eigene Bilder zu hören und zu fühlen. Und wenn beide eigene Bilder sehen, ist es nur zu normal, dass diese voneinander abweichen! Ich hätte mir den Fandango zum Beispiel entschiedener vorgestellt und das Bäurische vielleicht plumper und unbeholfener, das Morgengrauen vielleicht dramatischer – nicht in kitschigen, aber doch in großen bis extremen Farben … schließlich hat Moreno-Torroba eine Morgendämmerung in Spanien beschreiben wollen und keine im umnebelten Köln.
Aber das Gran Guitarra Quartet hat Bilder vor seinen Zuhörern ausgebreitet. Schöne Bilder, stimmige Bilder. Und die machen auch den Reiz von „Oyun“ von Carlo Domeniconi aus: Spiele. Irgendwie ist man bei Stücken von Domeniconi immer geneigt, ein Programm erkennen zu wollen, eine Geschichte, die erzählt wird. Oft schwingt ein Hauch (und mehr) Orient mit und oft werden die Geschichten auch beim Namen genannt.
Hier, in den drei Sätzen von „Oyun“, gefällt mir das, was das „Gran Guitarra Quartet“ auf dieser CD präsentiert, am besten. Sie greifen sehr geschickt die Geschichte auf, die man hier ahnt … und die ist eine orientalische. Im ersten Satz, der mit „Molto Energico“ missverständlich überschrieben ist, treffen die Musiker die Stimmung des Satzes sehr genau. Mich erinnert er an einen Geschichtenerzähler, der gemächlich und vorsichtig erzählt und seine Zuhörer beschwatzt … auch in „Lento“ und „Con fuoco“, den weiteren Sätzen von „Oyun“, finde ich meine eigenen Vorstellungen im Spiel des Quartetts wieder. Und so ist das mit Geschichten, die man extemporiert: Man verliert sich in Nebenhandlungen und Details und am Schluss weiß man nicht mehr, wo man begonnen hat.
Eine bemerkenswerte Debüt-CD ist hier vorgelegt worden! Diese Produktionen enthalten meistens Repertoire, das nicht unbekannt ist – schließlich will man das neue Publikum nicht vergrätzen. Diese Gefahr, nämlich die Zuhörer zu verärgern, ist hier nicht gegeben. Ich wünsche mir eigentlich nur noch, dass die vier Musiker als Quartett zusammenbleiben und dass sich immer mehr Komponisten dieser Ensembleform erbarmen und gute Stücke für vier Gitarren schreiben … denn bei dem Tempo, das die Vier vom „Gran Guitarra Quartet“ an den Tag legen, wird ihnen bald das Spielmaterial ausgehen. Bravi!
Los Romeros Celebration [Los Romeros]
Pepe, Celin, Celino, Lito Romero
Werke von Bretón, Tárrega, Pepe Romero, Villa-Lobos, Bach, Rodrigo, Iradier, Pachelbel, Francisco
de Madina, Celedonio Romero
Aufgenommen im Oktober 2008
RCA Red Seal [sonymusic.de] 88697458272
… Das ist Ballermann-Flamenco …
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Die Mitglieder der Familie Romero haben sich immer schon für die Schöpfer der Ensembleform Gitarrenquartett gehalten und für die Begründer jeglicher Gitarrenkultur überhaupt. Gut, das können sie tun – aber ob man ihnen diese Behauptungen abnimmt, kann jeder selbst entscheiden.
Viele haben sie ihnen abgenommen. Die Romeros waren als Gitarrenquartett sensationell erfolgreich. Sie haben Schallplatten bei den größten internationalen Labels gemacht und waren in den bekanntesten Konzertsälen der Welt zuhause. Und auch solistisch haben mindestens zwei Romero-Brüder beträchtliche Karrieren gemacht, Pepe und Angel.
Vor kurzem ist bei RCA eine CD zum fünfzigsten Jubiläum des Entstehens der „Los Romeros“ herausgekommen. Die Besetzung hat sich in der Zwischenzeit verjüngt – zwei Enkel sind dabei, Celino, Sohn von Celin, und Lito, Sohn von Angel. Der Vater der Romero-Familie, Celedonio (1913—1996), ist verstorben, Angel hat sich anderen künstlerischen zugewandt.
Das Repertoire der „Los Romeros“ hat sich nicht verjüngt … im Gegenteil! Es werden immer noch die alten Schlachtrösser mit- und vorgeführt, mit denen die Romeros vor fünfzig Jahren ihr Publikum begeistert haben. Und diese Schlachtrösser sind zu klapprigen Mähren geworden … einige jedenfalls.
Es hat immer zum konzertanten Prinzip der Romeros gehört, dass nicht das ganze Programm vom Quartett bestritten wurde, sondern dass dazwischen Solonummern und Duos gespielt wurden. Hört sich gut an, denn das Repertoire für Gitarrenquartett ist klein, außerdem kann so eine größere Selektion aus dem Gitarrenrepertoire vorgeführt werden. Dass aber heute immer noch „Recuerdos de la Alhambra“ und „La Paloma“ von Yradier vorgeführt werden, ist peinlich. Ähnlich peinlich wie – bei allem Respekt – Celedonio Romeros „Malagueñas“ oder auch die anderen flamencoiden Stücke dieser CD. Das ist Ballermann-Flamenco, den die andalusischen Zigeuner vermutlich als ihre Kulturleistung nicht wiedererkennen.
Und doch! „Tonadilla“ von Joaquín Rodrido ist in der Interpretation der Romeros große Kunst, sogar das erste Quartett von Francisco de Madina (1907—1974), geschrieben für Angelita Romero, die Ehefrau von Celedonio und Mutter des Clans.
Francisco de Madina war Pfarrer und komponierte -- nebenberuflich. Die Romeros haben ihn per Zufall in einem Musikaliengeschäft in New York City kennengelernt und wurden Freunde. Später haben sie ihn überredet, auch für Gitarre in verschiedenen Besetzungen zu schreiben … es entstanden mehrere Kompositionen, darunter einige für Gitarrenquartett, eine sogar für vier Gitarren und Orchester.
Madina war weder Spanier noch Katalane – Madina war Baske. Und das hört man – nicht zuletzt, weil er Spanisches an sich gemieden hat. Man findet sich, auch wenn er für das spanischste Instrument geschrieben hat, nicht im Flamenco oder auf irgendwelchem anderen spanischen Terrain wieder.
Francisco de Madina schrieb für seine Zeit eher konservative Musik, war einer erweiterten Form von Tonalität verpflichtet, dafür eher traditionellen formalen Dimensionen. Sein „Cuarteto Nº 1“ ist ein virtuoses Spielstück, das durchaus spielerische, wenn nicht gar verspielte Passagen enthält, dann aber doch immer wieder unter der Tatsache leidet, dass Madina oft die vier Gitarrenstimmen homophon gesetzt hat – oder auch eine gegen drei homophone Stimmen -- und das bringt nicht nur ausführungstechnische Probleme mit sich, sondern es beschneidet den Komponisten in seinen Gestaltungsmöglichkeiten. Der letzte Satz des Quartetts, „Final“ genannt, ist der satztechnisch modernste der vier: Hier umwerben sich mindestens zwei Stimmen, während die anderen einen orchestralen Untergrund liefern.
Ob Francisco de Madina in der Musik seiner eigentlichen Profession, der eines katholischen Priesters, verhaftet war, kann man nur vermuten – immerhin hätte er aber revolutionäre Ideen ungesagt und doch vernehmbar musikalisch äußern können. Hat er nicht!
Zum Jubiläum der Romeros noch eine Bemerkung: Sie sind fünfzig Jahre auf den Bühnen der Welt und verkaufen ihre zahlenden Kunden immer noch mit den gleichen Tricks für dumm. Und sie selbst wären dumm, wenn sie das nicht täten … denn wenn es immer noch funktioniert, spricht das nicht gegen sie, sondern gegen ihr Publikum. Bravi!
Nun noch ein paar Worte zu Francisco de Madina und auch zu den Romeros. Als ich die Jubel-CD hörte, habe ich den Namen des Komponisten gegoogelt und siehe da, ich habe eine CD gefunden, auf der das Konzert für vier Gitarren und Orchester von de Madina eingespielt ist, gespielt von den Romeros und dem Baskischen Nationalorchester. Die CD ist nicht brandneu, aber doch auf jeden Fall bemerkenswert und ich danke der deutschen Vertriebsfirma, dass sie mir schnell und unkompliziert ein Besprechungsexemplar geschickt hat:
Aita (baskische Form von Francisco?) Madina (1907—1972)
Euskadio Orkestra Sinfonikoa, Los Romeros, Xavier de Maistre, Orfeón Donostiarra, Christian Mandeal
Reihe: Basque Music Collection Vol. IX
Werke ausschließlich von Francisco de Madina
Aufgenommen im Juni und September 2005
claves-records, in Deutschland bei KlassikCenter Kassel [KlassikCenter] 2 CD CD 50-2517/18
… mehr als eine willkommene und wichtige Dokumentation des Werks des baskischen Komponisten …
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Mit dem Konzert für vier Gitarren und Orchester beginnt die CD. Und das Konzert wiederum beginnt nach einleitenden Fanfarensignalen mit einem verspielten, immerhin fast elf Minuten dauernden Satz namens „Arin“. Das Booklet beschränkt sich auf den eher kryptischen Hinweis, diese Satzbezeichnung weise auf baskische Einflüsse hin – was das heißt, können wir nur ahnen. Jeder meiner Versuche, den Begriff zu klären, führte hoffnungslos in die Irre.
Erneut höre ich die satztechnische Eigenart, dass Madina auch hier mehrere Gitarren homophon nebeneinander gesetzt hat, auch in schnellen Passagen – vielleicht hielt er sie für zu leise, um sich allein gegen ein Orchester durchsetzen zu können. Aber in diesem Wettbewerb stehen die Gitarren im „Concierto Vasco“ nie, denn der Komponist hat sie geschickt aus allen Tutti-Stellen herausgehalten, außerdem benutzt er sie im Zusammenklang mit Streichern gerne mit lauten Rasgueadoklängen … die einem dann allerdings doch spanisch vorkommen. Und immer wieder unisono gesetzte Sologitarren!
Der zweite Satz ist ein Zortziko, eine baskische Tanzform, die Francisco de Madina gerne verwendet hat. Der Zortziko ist oft mit dem Flamenco in Verbindung gebracht worden, er ist aber typisch baskisch und wurde schon im frühen 19. Jahrhundert von Ethnomusikologen beschrieben, und zwar mit seinem typischen 5/8-Takt und auch direkt mit dem Tanz verbundenen Melodien. Hier, in dem Konzert von Francisco de Madina, ist der Zortziko ein lebendiger, leichtfüßig schwingender Tanz.
„Eresia“, der dritte Satz, ist ein elegisches Stück Musik mit eher melancholischem Grundton. In der auf der gleichen CD folgenden „Basque Rapsody“ für symphonisches Orchester gibt es neben einem Zortziko einen Satz gleichen Namens (Eresia) und auch hier werden dabei melancholische Stimmungen gezeichnet – nicht Stille oder Gelassenheit, sondern durchaus eine Art dramatischer Melancholie und Tragik.
Mit einem Fandango schließt das „Concierto Vasco“, mit einem Fandango, der Spielfreude und Sinnesfreude ausstrahlt und der außerdem sehr geschickt gesetzt ist. Auch hier werden die Gitarren gern mit Rasgueado eingebracht, aber auch mit hinreißenden Melodien und in virtuosem Wechselspiel.
Das „Concierto Vasco“ von Francisco de Madina ist mangels weiterer Angebote ein „Muss“ für jedes Gitarrenquartett, das die Chance hat, mit einem Orchester zu musizieren. Gut, es gibt noch das „Concierto Andaluz“ von Joaquín Rodrigo für die gleiche Besetzung, aber auch über dieses Stück ließe sich nach unverkniffenem, kritischen Blick Einiges sagen.
Das „Concierto Vasco“ ist nicht durchgehend große Musik und es strahlt auch nicht die positive, mediterrane Spielfreude aus, die man bei Konzerten für Gitarre(n) und Orchester gern hört. Aber es ist deutlich mehr als eine zur Kenntnis zu nehmende Repertoireerweiterung! Man sollte es ernst nehmen und vielleicht bringt es eine andere Interpretation als die der Romeros zu neuem Leben.
Die CD-Produktion des Schweizer Labels „claves“ mit einem großen Teil der überlieferten Musik von Francisco de Madina jedenfalls ist mehr als eine willkommene und wichtige Dokumentation des Werks des baskischen Komponisten.
De Madina ist 1932 von seinem Orden nach Argentinien geschickt und später, 1955, nach Albany/New York versetzt worden. Er war sein Leben lang als Priester tätig und versorgte gleichzeitig die Kirchenmusik – viel Zeit zum Komponieren blieb ihm dabei nicht. Und doch sind etliche Werke bei Kalmus in den USA erschienen.
Das „Concertino Vasco“ für Harfe und Streichorchester bringt einen baskischen Musiker noch einmal nahe, der hier schon mit der Harfenversion des „Concierto de Aranjuez“ von Rodrigo vorgestellt worden ist: Xavier de Maistre [Xavier de Maistre]. Sein großes Vorbild Nicanor Zabaleta (auch Baske) und er haben die Harfe als eine Art baskischen Nationalinstruments etabliert … was sie natürlich weder war noch ist. Aber Zabaleta, hat das Instrument als klassisches Soloinstrument auf die internationalen Bühnen gebracht – ähnlich wie Segovia es mit der Gitarre getan hat.
Die zweite CD der Sammlung enthält Chormusik, darunter einige Weihnachtsmusiken und am Schluss noch ein paar rein instrumentale Werke, eine farbenfrohe „Danza“ zum Beispiel und schließlich „Oreaga“, ein zweisätziges Stück Programmmusik, in dem es um die Schlacht bei Roncesvalles (Oreaga ist der baskische Name für Roncesvalles, Roncesvaux der französische) geht, die 778 stattgefunden hat und in der Basken die Nachhut eines durchziehenden fränkischen Heeres unter Karl dem Großen überfallen haben. Die wenigen Franken wurden niedergemacht und dies sollte die einzige schwere Niederlage eines Heers unter Karl dem Großen bleiben. Unter anderen wurde auf der fränkischen Seite Roland, der Statthalter der Bretonischen Mark getötet und um diese Person sollten sich in den kommenden Jahrhunderten Legenden winden. Vor dem Bremer Rathaus ist ihm ein Denkmal gewidmet, in einem Gedicht von Friedrich Rückert kommt er vor, auch natürlich im Rolandslied und in vielen Heldengeschichten … nur ob die Basken sich bei ihrem Überfall auf die abgesplitterte Nachhut des Heeres von Karl dem Großen mit Ruhm bekleckert haben, darüber streitet man bis heute.
Corona Guitar Kvartet [Corona Kvartet]
Werke von Bach, Ravel, Morley, Hsueh-Yung Shen, Piazzolla
Aufgenommen 2006/2007
Albany Records [Albany Records] TROY 1084
… die Dänen gehen sehr sensibel mit der Musik um …
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Corona Guitar Kvartet [Corona Kvartet]: Dan Marmorstein: Just before the Dawn
Aufgenommen im Mai 1994 und August 1998, erschienen 2001
tutl records [tutl records] FKT 17
Corona Guitar Kvartet [Corona Kvartet]
Northpoints
Werke von John Frandsen, Østen Mikal Ore, Wayne Siegel, Hans-Henrik Nordstrøm, Sven Hedegaard
Aufgenommen 2002/2003
IRIS RECORDS [IRIS] IRISCD 0301. Das Lebel gibt es nicht mehr, die CD wird jetzt über Tutl vertrieben [tutl records].
Corona Guitar Kvartet [Corona Kvartet]
Jonas Tamulionis: Selected Compositions for Guitar
Aufgenommen 2004
Albany Records [Albany Records] TROY 811
Die frischste CD, die mir vom dänischen Corona-Quartett vorliegt, macht den Eindruck, sie sei seine Debüt-CD. Da gibt es nämlich das Italienische Konzert BWV 971, „Ma Mère d’Oye“ von Debussy, ein paar Sätze von Thomas Morley und schließlich „Polarnætter“ von Hsueh-Yung Shen und vier Sätze von Astor Piazzolla. Aber verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch! Das Quartett spielt keineswegs so, dass man es für blutige Anfänger halten könnte und die Musiker liefern auch kein Sammelsurium aus charmanten, risikoarmen aber rotzfrech virtuos daherkommenden Petitessen. Keineswegs!
Das Corona-Quartett aus Dänemark hat lange vor dieser „Debüt-CD“ kundgetan, dass es ganz andere Wege gehen will. Mehr als zehn Jahre vorher hat es eine CD mit Musik von Dan Marmorstein aufgenommen, mit Stücken, die sich ganz und gar nicht zu einem Debütprogramm eignen wollen … jedenfalls nicht zu dem Debüt von reisenden Virtuosen. Meine Meinung über die CD „Just before the Dawn“ habe ich schon 2002 kundgetan (in Gitarre & Laute, XXIV/2002, Nº 2, S. 15—16) und prinzipiell stehe ich zu ihr, bis auf die Tatsache vielleicht, dass ich die Aufnahme heute höher werten würde. Mindestens mit vier, vermutlich mit fünf Sternchen. Das liegt daran, dass ich die weitere Entwicklung des Quartetts jetzt kenne und dass ich das Standard-Repertoire zur Genüge genossen habe.
„Northpoints” war die zweite CD: „5 Contemporary Danish Works for Guitar Quartet”. „Neon Enlightened” von Østen Mikal Ore und „East L.A.Phase“ von Wane Siegel sind dabei für mich die Stücke, die diesem Programm einen roten Faden geben, eine Art Leitlinie … obwohl sie unterschiedlicher kaum sein können und obwohl sie keineswegs durch das Programm führen, sondern nebeneinander stehen. Das eine Stück, „Neon Enlightened” ist die leise und sensible Erzählung eines Kommens und Gehens … nein … des Kommens und Gehens. Des Entstehens der Welt. Klänge, die erst keine Nähe erkennen lassen, finden und vereinen sich, um sich aber gleich wieder zu verlieren und um am Schluss wieder auseinander zu driften und in die Stille hinab zu sinken. Oder „herab zu sinken“? Immer wieder kennt man Muster wieder, Klangmuster, die man eben erst gehört hat.
„East L.A.Phase“ treibt ein ganz anderer Puls. Auch hier finden sich kleinste Einheiten, um miteinander zu kopulieren und Neues entstehen zu lassen. Immer wieder und die Teile kommen sich immer näher, um sich dann wieder zu verlieren. „Phase shifting“ haben die amerikanischen Minimalisten das genannt. Parallel geht nicht, jedenfalls nicht in der „unendlichen“ Wiederholung.
Dybro Sørensen, Volkmar Zimmermann, Kristian Gantriis und Mikkel Andersen, das sind die Mitglieder des Quartetts, haben hier eine außerordentlich dichte und fein differenzierte Sammlung von Stücken vorgeführt. Man muss als Hörer Zeit haben, sich in diese Klangwelten fallen zu lassen. Wenn ich die Komponisten der anderen Stücke nicht erwähne, will ich damit nicht werten!
Szenenwechsel? Jonas Tamulionis ist aus Litauen, nicht aus Dänemark, und die Musik, die man hier zu hören bekommt, ist auch nicht ausschließlich für Gitarrenquartett geschrieben. Aber alle Stücke sind von Jonas Tamulionis!
Jonas ist 1949 in Vilnius geboren, hat dort studiert und lehrt heute das Fach „Computergesteuerte Notensatz-Techniken“ an der Musikakademie. Mit der Gitarre hatte er nichts zu tun bis er 1997 Volkmar Zimmermann kennenlernte, primus inter pares im Corona Guitar Kvartet. Jonas Tamulionis willigte ein, ein Stück für vier Gitarren zu schreiben: „Per suonare a Quattro“. Das Stück wurde in Kopenhagen uraufgeführt. Es ist des Komponisten Opus 257!
Irgendwie hat das Stück Mühe, in Gang zu kommen. Akkorde tauchen auf aus dem Nichts, stabilisieren sich … und verschwinden wieder. Sie fiebern ständig, vibrieren und flimmern. Hie und dort tut sich ein Ton hervor, tut sich hervor in der klanglichen Fläche. Aber ohne jede Konsequenz. Das Geschehen, in dem außerdem nichts geschieht, wird immer lauter und dominanter und das Klangchaos verschwindet wieder im Nichts, von wo es gekommen ist. Der zweite Satz dreht sich knapp drei Minuten um eine ostinate Folge des immer gleichen Akkords, umspielt sie, wehrt sich gegen sie, und vereint sich schließlich mit ihr. Dann kommt ein Satz, der in mir etwas anrührt. Eine Erinnerung an Cuba, an ein anderes, sehr vertrautes Stück für Gitarren. Meine Erinnerung ist sehr deutlich und sehr plastisch und sie irritiert mich. Den vierten Satz regieren wieder Akkorde – aber anders. Sie werden zerlegt und analysiert, nebeneinander, übereinander, in immer gleichen Figuren. Und dann schließlich lösen sie sich auf und es wird sehr rund und harmonisch. Der letzte Satz schließlich („Allegro molto con fuoco“ überschrieben) lebt auch von ostinaten Figuren, die sich durch das Stück ziehen und ostinat ist hier ein Akkord und es ist ein ständig repetiertes Muster, das drängt und sich durchsetzt … ohne das am Schluss zu schaffen. Es zerfließt und rinnt dahin und schließt dann klangmächtig.
Die anderen Werke von Jonas Tamulionis werden nicht vom Quartett gespielt und doch auf Gitarren. Ester Poli und Leopoldo Saracino, zwei italienische Musiker, gehören zum Ensemble. Elf Preludes für Gitarre solo werden gegeben, eine Sonate für zwei Gitarren und ein Trio. Die Werke entstanden zwischen 1978 und 2004.
Jonas Tamulionis liebt es, Klangteppiche auszurollen, auf deren Farben und Mustern sich Musiken bewegen, sich an ihnen reiben und sich dann auch mit ihnen vereinen. Dabei entstehen raffinierte, manchmal aber auch eher platte Cluster und oft beglückende Muster wie in „Perpetuum Mobile“ op. 292. Vieles ist minimal und dreht sich um sich selbst, vieles basiert auf ostinaten Formen, die harmonisch, rhythmisch oder einfach nur klanglich angelegt sein können. Muster, so interessant sie auch sein mögen und auch, wenn sie sich überschneiden, bleiben eine Art Rapport, den es musikalisch natürlich zu beleben gilt.
Und jetzt die CD, um die es hier eigentlich geht: Das Corona-Guitar-Kvartet hat seine Debüt-CD vorgelegt … hat es natürlich nicht! Aber es ist ihre erste CD, die aus einem heterogen zusammengesetzten Programm besteht, aus Stücken interschiedlicher stilistischer Herkunft, wie das für Bewerbungsschreiben oder Aufnahmeprüfungen verlangt wird. Aber die Musiker sind keine Debütanten, keine Novizen, die in die Gesellschaft der erwachsenen, ernstzunehmenden Musiker aufgenommen werden wollen.
Zunächst fällt auf, dass sich das Corona Kvartet durch größere Klangbreite auszeichnet. Die vier Gitarristen spielen nämlich nicht auf identisch besaiteten und identisch gestimmten Gitarren, sondern benutzen neben zwei herkömmlichen Instrumenten je eine Terzgitarre und eine achtsaitige, im Bass erweiterte Gitarre. Diese auf den ersten Blick geringe Änderung ergibt ein weiter gefächertes und differenziertes Klangbild.
Nun will ich keineswegs die Attraktivität, welche diese CD auf mich ausübt, nur auf die Instrumentierung zurückführen. Nein, die Dänen gehen sehr sensibel mit der Musik um, sie verstehen es, mit den klanglichen Vexierbildern zu spielen, die Maurice Ravel liefert, und zwar in einer sehr wirkungsvollen Transkription von Primo Beraldo; sie werden den fast vierhundert Jahre alten Instrumentalstücken aus der Sammlung von Thomas Morley gerecht, die Lebenslust mit royaler Zurückhaltung demonstrieren; und dann schaffen sie es auch noch, das Stück „Polarnætter“, was nichts anderes heißt als Polarnächte, von Hueh-Yung Shen, dem in Washington, DC, geborenen und dann bei der Boulanger in Paris und später bei Darius Milhaud (in Aspen) ausgebildeten Komponisten, darzustellen, und zwar atemberaubend dicht und dramatisch, sehr berührend und mystisch. Dass nach all dem auch die abschließenden Tangos von Astor Piazzolla gefallen, wundert nicht wirklich … allein, hier wäre etwas weniger Geradlinigkeit angebracht gewesen. Müssen diese Tangos nicht irgendwie aus dem Ruder laufen um als argentinische Tangos durchzugehen? Hier tun die Musiker des Corona Guitar Quartets etwas zu viel des Guten. Hier wird etwas zu klassisch skandiert, hier riecht man zu wenig die Atmosphäre des schmuddeligen Bordells am Rio de la Plata.
Dances: Aquarelle Guitar Quartet;
Werke von Gismonti, Martín, Scott, Boccherini, Piazzolla, McKay und Lagrène
Aufgenommen im Februar 2010
CHANDOS Records [chandos.net], in Deutschland bei CODAEX [codaex.com] CHAN 10609
… für mich sind es eher Ölfarben, die ich höre, und keine Aquarelle …
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Spirit of Brazil: Aquarelle Guitar Quartet
Werke von Clarice Assad, Villa-Lobos, Gismonti, Sérgio Assad, Dyens, Bellinati
Aufgenommen im August 2007, erschienen 2009
CHANDOS Records [chandos.net], in Deutschland bei CODAEX [codaex.com] CHAN 10512
Das Aquarelle Quartett hält sich im Gegensatz zum Corona-Quartett weniger an Neue Musik und auch weniger an Klassisches. Hier ist eher Weltmusik angesagt, Musiken aus aller Herren Länder – Hauptsache sie fetzen. Hie und dort gibt es einmal einen Moment Ruhe, beim Fandango von Luigi Boccherini zum Beispiel oder auch in dem einen oder anderen der „Seven Dances“ von Andy Scott – aber ansonsten sind Tempo und Wirkung angesagt. Virtuoses Beiwerk umrankt da gelegentlich die Musik, Beiwerk, wie man es von der Platte „Friday Night in San Francisco“ kennt, wo Paco de Lucia, Al Di Meola und John McLaughlin hauptsächlich ihre Schnelligkeit vorgeführt haben … und dann herrscht doch wieder Ruhe … beinahe Stille.
Das Programm, das die Musiker vom Aquarelle Guitar Quartet ausgesucht haben, enthält Egberto Gismontis „Baiáo Malandro“, die hinreißenden Balkan-Melodien „Ajde Dali Znaeš Pametiš Milice“ und „Pajduska“, gesetzt von Vlatko Stefanovski und Miroslav Tadic, zwischendurch „La Muerte del Angel“ von Piazzolla und am Schluss dann „Made in France“, ein Stück für Klassiker arrangierten Zigeuner-Jazz von Biréli Lagrène, einem der zahllosen legitimen Erben von Django Reinhardt. Auch eine „Malagueña“ im Stil der Romeros fehlt nicht, ebenso wenig eine Tarantella.
Bei jedem Stopover auf der musikalischen Reise zwischen Belgrad und Buenos Aires werden landestypische Spezialitäten serviert, deren Rezepte so international sind, dass sie nicht nur jeder kennt – sie schmecken auch jedem, weil Exoten nicht dabei sind und alles so gewürzt ist, dass es schmeckt wie bei Mama.
Aber noch einmal: Die Musik wird äußerst effektvoll, virtuos und gekonnt vorgeführt. Diese vier Gitarristen verstehen ihr Geschäft.
Auch die ältere CD, auf der brasilianische Musik eingespielt ist oder, sagen wir, Musik mit brasilianischem Flair, hinterlässt den gleichen Eindruck: Virtuos, eloquent, glatt. Hier, auf der CD „Spirit of Brazil“, sind dabei noch Werke eingespielt, die nicht jeder kennt: „Bluezillian“ und „Danças Nativas“ der ebenso schönen wie kreativen und musikalischen Tochter von Sergio Assad, Clarice. Beide Werke sind witzig, frisch und frech … wie eigentlich viele Stücke des neuen Brasiliens. Da sind alte Grenzen keine Grenzen mehr und da sind auch musikalische Erbschaften längst ausgegeben. Etwas Bossa ist immer noch im Gepäck, aber nur noch wenig. Und doch swingt alles irgendwie … brasilianisch. Roland Dyens sieht Brasilien durch seine französische Brille. So, wie sein berühmter „Tango en skaï“ nicht argentinisch ist, wirkt auch das Brasilianische an seinem Stück „Brésils“ europäisiert, so, wie ein Franzose über Brasilien nachdenkt.
Und immer noch: Das Aquarelle-Quartett spielt virtuos engagiert, aber für mich sind es eher Ölfarben, die ich höre, und keine Aquarelle.
20+
Eos Guitar Quartet
Werke von Michel Camilo, Sérgio Assad, Wolfgang Muthspiel, Ralph Towner, John McLaughlin, Christy Doran, George Gruntz, Andreas Vollenweider, José Antonio Rodriguez und Mike Stern
Aufgenommen im Juli 2009, erschienen 2010
Eos guitar edition [Eos Guitar Edition] 234200-B
… Diese Eitelkeit und dieses schamlose Prahlen mit billigem virtuosem Schnickschnack, das Gitarristen (angeblich) zueigen ist, das habe ich bei EOS nie bemerkt …
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Nun noch ein Jubiläum: Das Schweizer EOS-Quartett ist 1988 von Marcel Ege, Martin Pirktl, David Sauter und Michael Winkler gegründet worden, von den Musikern also, die heute noch das Ensemble bilden. In diesem Jahr ist die Jubiläums-CD erschienen, eine CD mit 21 einzelnen Stücken von jeweils unterschiedlichen Komponisten. Ein einziges Stück, die „Russian Fantasy“ von Alexander Vinitsky ist über fünf Minuten lang, die anderen zwischen knapp zwei und dreieinhalb Minuten. Miniaturen.
Der Booklet-Text verrät, dass es ursprünglich zwanzig Komponisten waren, die kurze Stücke für diese CD schreiben sollten – zwanzig wegen des Jubiläums. Dann sind es doch 21 Stücke geworden. Also wurde aus „20“ „20+“.
Zu „Eos“, der griechischen Göttin der Morgenröte, sollten alle Stücke einen Bezug haben. Eos war zuständig, allmorgendlich mit ihrem Gespann aufzutauchen und den beginnenden Tag anzukündigen. Als Frühaufsteherin sozusagen, und auch ein wenig als Mahnerin daran, dass man den Tag nicht verschlafen sollte.
Dass ausgerechnet Musiker zu der Göttin der Morgenröte eine freundschaftliche Beziehung haben, kann ich mir eher nicht vorstellen. Lassen Sie mich also schauen, welches Urteil sie musikalisch über Eos oder (in Rom) Aurora abgegeben haben. Mit Maximo Diego Pujol beginnt das Programm: „Naranjas urbanos“. Das sind keine städtischen Orangen, „Naranjas urbanos“ ist eine Metapher für das schmutzige Grauorange des Himmels über Buenos Aires früh am Morgen. Und man hört die Stadt erwachen … nicht so wie Jacques Dutronc Paris morgens um fünf gehört hat, nein, aber man hört den Tango der frühen Stunden … oder ist es der der Übriggebliebenen? Der hinreißende „Tango for ten“ von Michel Camilo schließt sich attacca an … und über allem schwebt Che Astor, der Große. Von Leo Brouwer hören wir ein Stück namens „Los Caminos del Viento“ und wir erinnern uns an den Regen auf Cuba und andere Naturereignisse … aber auch an den Sonnenaufgang?
Von den insgesamt 21 Stücken dieser CD will ich nur ein paar erwähnen – schließlich ist dies ein außerordentlicher Geburtstagsstrauß farbigster Art mit diversen Düften. Wolfgang Muthspiel zum Beispiel steuert ein melancholisches Stück namens EOS bei; Paco de Lucia „Cositas Buenas“, einen Flamenco, den er nicht eigens für diese CD komponiert, deren Bearbeitung für vier Gitarren er aber abgesegnet hat; José Antonio Rodríguez, auch einer der großen Aficionados, hat gleich vorher seine „Danza de Amanecer“ für das Quartett geschrieben, seinen „Tanz der Morgendämmerung“, der einen wilden und farbenprächtigen Morgen verspricht, einen spektakulären Sonnenaufgang; und, um auch einmal einen Gitarristen als Gratulanten zu nennen, Roland Dyens hat ein Stück mit der Überschrift „Seul à seuls“ für EOS geschrieben und sich wieder einmal als genialer Improvisator bewiesen, der sein Instrument kennt und einsetzt, wie kaum ein anderer und der Musik schreibt, die natürlich und ungezwungen einherkommt, als wäre sie improvisiert; und schließlich Mahmoud Turkmani. Er hat selbst vor einigen Jahren ein Gitarrenquartett gegründet, das „Ludus Guitar Quartet“, und hat auch mit diesem Ensemble Platten eingespielt. Davon gleich mehr!
Das Programm, das das EOS-Quartett hier vorlegt, ist außergewöhnlich – kurzatmig auf der einen Seite, weil es nur aus Mini-Piècen besteht, weit und großzügig auf der anderen, weil es ein großes Spektrum unterschiedlicher Musiken anbietet. Musiken, die ausnahmslos unbekannt sind.
Fast ist es unangebracht, sich nun noch über die Musiker des EOS-Quartetts zu äußern, die schließlich die Gastgeber sind, Gastgeber zu einer Geburtstagsparty. Die vier Schweizer zeichnen sich nicht nur durch hohe Professionalität aus, sie sind auch erfrischend ungitarristisch. Diese Eitelkeit und dieses schamlose Prahlen mit billigem virtuosem Schnickschnack, das Gitarristen (angeblich?) zueigen ist, das habe ich bei EOS nie bemerkt und das würde, zugegeben, auch nicht zu ihrem eidgenössischen Image passen. Sie sind ernsthafte Musiker … aber mit Spaß an der Musik und am Musizieren. Und sie haben einen Blick für musikalische Qualität. Für Komponisten, die ihnen Stücke schreiben und für die Kunst, diesen gerecht zu werden!
So, nun noch etwas zu Mahmoud Turkmani, dessen Name mir unbekannt war, bis ich die CD „21+“ gehört habe. Ich habe auch eine CD gefunden, die ich vor einigen Jahren sträflich unbeachtet gelassen habe:
Mahmoud Turkmani: nuqta
Ludus Guitar Quartet
Aufgenommen im Februar 1999
ENJA TIPTOE [Enja] 888 835 2
… dann erzählt er Geschichten. Geschichten, die voller Geheimnisse sind. Geschichten aus tausend und einer Nacht …
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Mahmoud Turkmani ist 1964 im Libanon geboren. Gitarre und Oud hat er gelernt und rasch, im Alter von sechzehn Jahren schon, mit seiner Musik Geld verdient. Da es die politischen Bedingungen in seinem Land nicht erlaubten Musik zu studieren, ist er nach Moskau gegangen und hat dort 1989 seine Examina abgelegt. Danach ging er in die Schweiz (wir kommen dem EOS-Quartett näher!) um dort bei Oscar Ghiglia die höheren musikalischen Weihen zu erringen, gleichzeitig auch bei Juan Carmona in Andalusien (Flamenco) und dann bei Stephan Schmidt in Bern. Er, Schmidt, hat Mahmoud ermuntert, auch kompositorisch tätig zu bleiben … was er beherzigt hat, denn alle Kompositionen dieser CD sind von Mahmoud selbst.
Und die Stücke spiegeln sein Leben wider und zwar ein Leben in den unterschiedlichsten kulturellen Umgebungen. Geboren ist er in einem arabischen Land und dort auch hat er auch die ersten, schon sehr weitreichenden musikalischen Erfahrungen gemacht. Sie sind nicht durch ein Studium an ihn herangetragen worden, er hat sie im täglichen Leben gemacht. Lernend durch Erfahrung und nicht durch Unterweisung. Später hat er sich vom Autodidakten zum akademischen Musiker entwickelt und dabei hatte er zum Glück Lehrer, die ihn nicht in einen westlich-klassischen Musiker ummodeln wollten.
Dabei kennt Mahmoud Turkmani sich durchaus im klassischen Repertoire und in klassischen Techniken aus … aber reizvoll sind seine Stücke durch ihr Schweben zwischen Welten. Auf mich wirken sie alle wie Improvisationen, und zwar Improvisationen mit uns fremdem Material. Auch, wenn Mahmoud Turkmani auf einer temperiert gestimmten Gitarre spielt, habe ich den Eindruck, er habe unterschiedliches Tonmaterial zur Verfügung, andere Intervalle und, daraus resultierend, andere Harmonien. Wenn er Oud spielt, wie in „Hdiye“ zum Beispiel, dann erzählt er Geschichten. Geschichten, die voller Geheimnisse sind und die für uns Europäer fremd und exotisch wirken … aber Geheimnisse haben uns an Geschichten immer schon fasziniert. Geschichten aus tausend und einer Nacht.
Das Ludus Quartett, in dem neben dem Komponisten noch die Gitarristen Thomas Estermann, Stefan Kuen und Claudio Meneghelli spielen, ist nicht auf synchrones Spiel getrimmt oder auf Virtuositäten im herkömmlichen Sinn. Im Gegenteil: Sie spielen eigentlich meist eher asynchron und ihre Virtuosität ist eine andere, als diese schaustellerische Artistik, die das mitteleuropäische Publikum seit dem 19. Jahrhundert in Begeisterungsstürme versetzt. In „Point III“ spielt Mahmoud Turkmani Oud und seine Quartettkollegen Gitarren und in diesem Stück offenbaren sich die Gemeinsamkeiten und die Gegensätze der musikalischen Welten, die Turkmani erlebt hat. Da ringt europäische Ordnung mit orientalischer. Beide gehen auf jahrhundertealte Traditionen zurück und haben sich in der Geschichte gelegentlich überschnitten – und wenn, dann sind enorm fruchtbare Symbiosen entstanden bei denen eher die Europäer von den Arabern profitiert haben als umgekehrt.
Die Musik von Mahmoud Turkmani wirkt auf mich eher schwermütig und weniger mediterran leicht und luftig … dabei ist der Libanon ein Mittelmeerland. Aber wir sollten zu verstehen versuchen, dass wir unterschiedliche musikalische Sprachen sprechen und Topoi in der jeweils anderen vielleicht falsch deuten. Diese CD jedenfalls sollte man unvoreingenommen hören und auf sich wirken lassen, dann hat man auch Chancen, die Geschichten zu verstehen, die erzählt werden. Mir haben sie jedenfalls gefallen!
Fénix International Guitar Quartet
Werke von Mozart, Brouwer, Kleynjans, Domeniconi
Aufgenommen im November 2001
Amphion [Amphion. Die URL ist inaktiv!] 20436
… Fénix spielt fast unverschämt perfekt …
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Über diese CD von Käppel & Co. möchte nun noch etwas schreiben, auch wenn das eigentlich keinen Sinn macht. Das Label „amphion“ scheint nämlich nicht mehr zu existieren, jedenfalls erreicht man unter www.amphion.de niemanden mehr … und auch das Quartett ist schon Geschichte. So etwas passiert, wenn vier Musiker aus so unterschiedlichen Gegenden dieser Erde zusammenarbeiten! Und doch: Ich möchte Sie über die CD informieren – vielleicht wird es ja irgendwann eine Neuauflage bei einem anderen Label geben und vielleicht finden die vier Gitarristen sich doch wieder für das eine oder andere Konzert zusammen.
Fénix besteht (oder bestand) aus Hubert Käppel, Sotiris Malasiotis (Griechenland), Luciano Marziali (Italien) und Piraí Vaca aus Bolivien. Getroffen und zum Quartett zusammengetan haben sich die vier Gitarristen in Köln im Jahr 1999.
Was das Repertoire anbetrifft, ist Fénix für diese CD auf Nummer sicher gegangen. Mit der „Kleinen Nachtmusik“, mit ihr wird das Programm aufgemacht, kann nichts schiefgehen, die kennt und schätzt jeder. Regenlandschaften sind auch bekannt („Cuban Landscape with Rain“ von Leo Brouwer), wenn auch jetzt, im August 2010, extrem unpopulär. Dazwischen „Oyun“ von Carlo Domeniconi und „Les Quatre Points Cardinaux“ von Francis Kleynjans. Oyun hatten wir heute schon, die selten zu hörenden Stücke von Kleynjans muss man nicht kennen, um sie zu mögen oder nicht zu mögen. Es handelt sich um eingängige, parodistische Stücke, ein Pastiche, dem jede Art Persiflage oder Polemik abgeht: „Mélodie Scandinave“, „Habanera“, „Valse Viennoise“, „Ragtime“ … gut getroffene stilistische Übungen mit Charme … aber ohne weitere Ambitionen.
Fénix spielt fast unverschämt perfekt, was die klangliche musikalisch darstellende Seite der Medaille angeht. Da haben die vier Musiker sich verstanden und da waren sie offenbar meist einer Meinung. Das „blinde Verstehen“, das es bei Ensembles, die Ewigkeiten miteinander Musik gemacht haben, gelegentlich gibt, dieses Gefühl, dass einer in Brüssel und der andere ohne jeglichen Kontakt in Chicago spielen kann und zwar völlig synchron, dieses Verstehen ahne ich nicht, wenn ich die Fénix-CD höre. Ich höre eher eine Truppe, die diabolischen Spaß an der Musik hat, die sie spielt. Ist ja auch was!
Guitalian Quartet [Guitalian Quartet]
Live
Werke von Rossini, Bizet, Piazzolla, Brouwer und Martín
Aufgenommen im Oktober 2007
OIDI [OIDI] Records 0801
… Kein Kokettieren, kein Buhlen, keine Extravaganzen! …
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Irgendwie schließt sich mit dieser Aufnahme der Kreis wieder … wir sind wieder bei Carmen! Und der Kreis schließt sich mit einer CD der besonderen Art: mit eine Live-Aufnahme, der einzigen in meiner Rundschau. Live-Aufnahmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie „am Stück“ aufgenommen worden sind, also ohne die Möglichkeit, Fehler herauszuschneiden und durch Schnipsel aus besseren Aufnahmen zu ersetzen, und dass alles vor Publikum stattfindet, was eine andere Haltung und eine andere Risikobereitschaft bei Musikern evoziert. Live spielen Musiker spontaner, direkter auf Stimmungen eingehend, mit dem Publikum kommunizierend … die nüchterne Atmosphäre eines Studios oder eines anderen Raums mit Aufnahmeleiter und Tontechniker als einzigen Zuhörern bringt gemeinhin steifere, sterilere Musik hervor.
Und das ist nur der emotionale Aspekt! Rational weiß ein Musiker natürlich, dass er für eine Schallkonserve spielt, die, ist sie einmal im Handel, immer wieder aufgelegt werden kann und auf der sich auf diese Art Fehler oder interpretatorische Ungereimtheiten beim Käufer einbrennen und zum Ärgernis werden können … Fehler, die „im Feuer des Gefechts“, bei einer Live-Darbietung vor Publikum, als spontane Ausrutscher, wenn überhaupt, zur Kenntnis genommen werden. Aber auf einer CD … da rutscht der Musiker immer wieder erneut aus und seine „Fehler“ werden bei jedem Abspielen aufs Neue zur Kenntnis genommen.
Live-Aufnahmen sind also Risikoprojekte für Musiker und dem begegnen sie gemeinhin so, dass sie kein „Risikorepertoire“ spielen. Das hat das Guitalian Quartet auch getan. Die Ouvertüre zum „Barbier von Sevilla“ von Rossini/Giuliani ist ein Kassenschlager, ebenso die Suite aus „Carmen“. Piazzolla geht immer, ebenso die hinreißende Leonische Regenlandschaft und auch die beiden Stücke von Eduardo Martín, gehören zum sicheren Repertoire und sind heute schon mehr als einmal erwähnt worden.
Das spontane Spiel, das ich eben für Live-Aufnahmen erwähnt habe, finde ich auf der CD des Guitalian Quartet nicht. Kein Kokettieren, kein Buhlen, keine Extravaganzen! Dafür sind die italienischen Musiker vielleicht zu ausgebufft … oder zu professionell? Vielleicht ist es aber auch so, dass eine Live-Aufnahme eine zufällige Momentaufnahme sein kann, ein Schappschuss, auf dem etwas fehlt? Ernsthaftigkeit vielleicht, oder der Wunsch nach etwas endgültigem? Ich weiß nicht … aber mir fehlt etwas. Obwohl die vier Gitarristen gut und routiniert spielen.
BGQ (Barrios Guitar Quartet) [Barrios Guitar Quartet]
Four Suites
Werke von Purcell, Strawinsky, Weill und Moreno Torroba
Aufgenommen im Juli 2006, erschienen 2007
AUREAVOX [Aureavox] 2007-1
… Das Barrios Guitar Quartet hat mit dieser CD Klasse bewiesen – mehr als die anderen Ensembles, die ich mir angehört habe …
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Antonio Vivaldi: The Four Seasons Barrios Guitar Quartet
Aufgenommen im Februar 2000
AureaVox [AureaVox] 2000-2
Besprochen in Gitarre & Laute XXIII/Nº 1, S. 34
Barrios Guitar Quartet: two timing
Werke von Alban Berg, Claude Debussy, Arnold Schönberg und Heinz Strobel
Aufgenommen im Februar 2000 und Oktober 2002
Acoustic Music Records [Acoustic Music] 319.1316.2
Gleich mit der einleitenden Suite aus „The Fairy Queen“ von Henry Purcell (1659—1695) zeigt das Barrios-Quartett, was es vorhat. Da wird sehr fein und sensibel musiziert, weder geklotzt noch gekleckert, aber mit den klanglichen Möglichkeiten, die ein Gitarrenquartett hat, gespielt. Eine wunderbar schwingende „Hornpipe“ gibt es da und einen „Dance for the haymakers“, dessen bäuerlichen Charakter das Quartettmitglied Stefan Hladek bei Ziehen aller Register sehr wirkungsvoll für das neue Medium übertragen hat. Und danach bildet das zarte Lied „If Love’s a sweet passion“, bei dem man glaubt, ein Lautenlied von John Dowland (1563—1626) oder einem seiner Zeitgenossen und musikalischen Konkurrenten zu hören, den Gegensatz, von dem Bühnenmusiken wie „The Fairy Queen“ leben.
Es folgt eine Bearbeitung der „Pucinella-Suite“ von Igor Strawinsky, die schon von verschiedenen Gitarristen für ihre Zwecke bearbeitet worden ist. Und es geht! Gut, Strawinskys Instrumentierung ist ein wesentlicher Grund für die Attraktivität seiner Originalversion – aber es geht! Es sind nicht alle Sätze der Suite in die Bearbeitung für Gitarrenquartett eingeflossen – der mit „Vivo“ überschriebene witzige Satz zum Beispiel hätte vermutlich eine solche klangliche Reduktion nicht vertragen und ist auch nicht dabei -- aber die anderen sind in ihrer neuen Form außerordentlich wirkungsvoll.
Und dann kommt der außergewöhnliche und für meine Begriffe attraktivste Teil dieser CD-Einspielung: „Sechs Songs aus der Dreigroschenoper“ von Kurt Weill. Gleich vorweg: Eine Ausgabe der Bearbeitung dieser Musik ist in der Zwischenzeit bei der UE in Wien erschienen – aber darüber später mehr!
Kurt Weill selbst hat 1929, ein Jahr nach der Uraufführung seiner Oper, ein instrumentales Arrangement von Songs aus der „Dreigroschenoper“ geschrieben. Die Besetzung: Holz- und Blechbläser mit Schlagzeug, Klavier und Banjo. „Weill verdichtet hier seinen Satz durch hinzukomponierte Stimmen und melodische Variationen und stellt so den konzertanten Charakter der Musik in den Mittelpunkt.“ [Vorwort] Nangialai Nashir, Mitglied im Barrios Guitar Quartet, hat nun eine Bearbeitung dieser instrumentalen Fassung von Kurt Weill geschrieben und das ist ihm exzellent gelungen!
Zu den Gitarren sind hie und da Schlagwerk-Komponenten eingesetzt worden, auch einmal ein vor sich hin flötender Musiker. Das Ergebnis der Neuinstrumentierung ist eine große klangliche Fülle und Geschlossenheit. Ich habe beim Hören den Eindruck, ein kleines Orchester vor mir zu haben, das genau den Ton der Brecht/Weill-Songs trifft, genau den Verfremdungen nachhorcht, welche diese Musik für uns so typisch und attraktiv machen. Ob es „die Ballade vom angenehmen Leben“ ist, „Pollys Lied“ oder die hinreißende „Tango-Ballade“ – hier werden im Moritaten-Ton Geschichten erzählt, die sicher jeden erreichen und berühren!
Vielleicht wäre es eine gute Idee gewesen, im Booklet der CD und auch in der Ausgabe der „Songs aus der Dreigroschenoper“ die Texte abzudrucken. Es sind rein instrumentale Bearbeitungen, und diese haben auch ihre sehr eigene Qualität, aber vielleicht wäre es für Hörer der CD und Benutzer der Ausgabe hilfreich, die Texte von Bertold Brecht wieder einmal zur Hand zu haben.
Das Barrios Guitar Quartet hat mit dieser CD Klasse bewiesen – mehr als die anderen Ensembles, die ich mir für diesen Beitrag angehört habe. Martin Wentzel ist übrigens der einzige Spieler, der aus der Besetzung der älteren CDs noch im Ensemble ist. Neben ihm spielen jetzt Ulf Borcherding, Stefan Hladek und Nangialai Nashir. Die neue Besetzung wirkt auf mich deutlich überzeugender und professioneller: Die Musiker haben eine sehr glückliche Hand, wenn es um die Auswahl des Repertoires geht, sie haben die richtigen Leute, wenn Transkriptionen oder Arrangements angefertigt werden müssen und sie spielen werkdienlich und unaufdringlich. Nein, viel mehr, sie haben mit dieser CD deutlich Lust auf weitere musikalische Aktivitäten des Quartetts gemacht.
De Barcelona a l’Havana
Barcelona Guitar Quartet [bcnguitarquartet]
Werke von Xavier Montsalvatge
Aufgenommen in Februar 2002
la mà de guido [la mà de guido] LMG 4001-03
… Die Musik von Xavier Montsalvatge sollten die Gitarrenquartette sich unbedingt vormerken! …
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Stücken zweier Komponisten ist diese CD gewidmet. Einer der beiden, Xavier Montsalvatge (1912—2002), wird hier selten bis überhaupt nicht gespielt, der andere, Leo Brouwer (*1939) ist in der internationalen Gitarrenszene ein vielgespielter Superstar. Für den einen waren Stücke für Gitarre oder Gitarren eher Ausnahmen, für den anderen sind eher Werke, in denen keine Gitarre vorkommt, Raritäten. Montsalvatge war Katalane – Brouwer ist Kubaner.
Viele Gemeinsamkeiten sind es nicht, welche die beiden Komponisten vereint … und doch weisen ihre Stücke unüberhörbare Ähnlichkeiten auf. Montsalvatge hat einige Zeit auf Kuba gelebt … und dass er kubanische Musik geliebt hat, das hört man! Gleich mit dem Stück „Punto de Habanera“ beginnt das Programm, ein sinnliches Wiegenlied mit dem Namen „Nana“ folgt, es erinnert an Leo Brouwers Schlaflied, und dann kommen etliche Habaneras und Tangos. Montsalvatge hatte mehr als eine Vorliebe für karibische Musik, er hatte die fixe Idee, eine „neue Folklore“ zu begründen, eine Folklore, die karibische Einflüsse einbezog und die er „Antillanismo“ nannte – beeinflusst durch die schlechten Erfahrungen, die Montsalvatge mit dem spanischen Nationalstaat gemacht hatte. Der Wirren des spanischen Bürgerkriegs waren die Gründe dafür, dass er sich von Spanien abwandte und dass er alles, was er einmal an Nationalstolz empfunden hatte, in Frage stellte.
Xavier Montsalvatge war Katalane und das war ein erster Fluchtpunkt. Und er verbrachte einige Zeit auf Kuba – das war der nächste. In allen möglichen musikalischen Stilen hat er sich auf der Suche nach seinem eigenen Weg versucht … aber er gehörte der „verlorenen Generation“ an, der Generation, die nicht mehr mit beiden Beinen auf dem Boden der nationalen Traditionen stehen konnte und auf der Suche nach neuen Wegen war. Einer von Montsalvatges Wegen war seine „neue Folklore“. Er hatte entdeckt, dass auf den karibischen Inseln viel Spanisches zu finden war, das Jahrhunderte vorher dorthin gebracht worden war, mitgenommen von Entrechteten, missbraucht, die Neue Welt aufzubauen.
Genau da ist die Schnittstelle zwischen den musikalischen Welten von Leo Brouwer und Xavier Montsalvatge, genau hier liegt der Grund für das Verwandtsein ihrer jeweiligen musikalischen Diktion. Beide haben, aus verschiedenen Richtungen freilich, gleiche Betrachtungen angestellt. Von Leo Brouwer wissen wir, dass er europäische und westafrikanische Elemente in seinen Stücken verwendet hat – Montsalvatge verwandte kubanische.
Auf der CD des Barcelona Guitar Quartet finden wir deutlich mehr Musik von Montsalvatge als von Brouwer und seinem Angedenken ist die CD auch gewidmet. Und das Herz der vier katalanischen Interpreten scheint auch eher an dessen Musik zu hängen, als an der des Kubaners … obwohl … die beiden kubanischen Landschaften (eine mit Regen, die andere mit Rumba) und die seltener gehörte „Toccata“ sind sehr bildhaft dargestellt. Der Regen artet zwar in ein Gewitter aus, dafür zergeht die Rumba auf der Zunge. Ähnlich wie die Habanera von Montsalvatge und dessen Tango.
Allein dafür, dass die Musiker aus Barcelona exzellente Musiken in unsere Erinnerung zurückrufen, die fast als vergessen gelten müssen, gehört ihnen mein Dank! Aber sie gewähren uns auch noch eine knappe Stunde pure Unterhaltung auf höchsten Niveau. Die Musik von Xavier Montsalvatge sollten die Gitarrenquartette sich unbedingt vormerken! Leos Musik bedarf keiner Promotion.